Es riecht nach Westpaket, getanzt wird Lipsi

Dörte Trauzeddel lässt das Publikum ganz sinnlich an ihren Erinnerungen teilhaben. »Riecht Ihr das auch?« fragt sie und hält den ersten Zuschauerreihen den zuvor behutsam und voller Vorfreude auf die darin verpackten Köstlichkeiten geöffneten Karton unter die Nase. Wenn man einen Marsriegel in ganz dünne Scheiben schneidet, dann hält der 20 Tage! Wie verheißungsvoll waren die Westpakete, in denen es nach Seife und Kaffee roch, in denen sich womöglich auch mal ein Überraschungs-Ei versteckt hatte, das damals für viele die Idee der freien und bunten BRD verkörperte.
So sensibel und in feiner Balance von Distanz und Direktheit, so persönlich und berührend, wie dieser musikalische Abend zum Mauerfall-Jubiläum konzipiert ist, konnte man sich als Zuschauer in der Tat so Manches lebhaft vorstellen. Die alberne Harmlosigkeit des 1958 erfundenen »Lipsi«, den in Ermangelung der echten Elvis-Rhythmen »alle jungen Leute heute tanzen« ebenso wie den Drive des »Sputnik Twist« (die Band wurde bereits 1966 unter Druck der DDR-Führung aufgelöst); Urlaube, die im Sommer bei jedem Wetter an die Ostsee und bald in den berühmt-berüchtigten FKK-Kult führten, das Anstehen für eine Jeans oder die eine Melone für alle, die es einmal im Jahr gab.
An die Hand genommen von einer verblüffend vielseitigen, teils chronologisch angeordneten Lied-und Musikauswahl tauchte man in den zwei kurzweiligen Stunden in die Alltagswelt derer, die sich mit dem Schicksal »Born in the GDR« arrangieren mussten. Man konnte nachempfinden, wie es sich für viele junge Menschen innerhalb der Grenzen von Überwachung, Verboten und patriotisch-kommunistischen FDJ-Gelübden gelebt haben mag. Die neue Produktion des Sensembles, bei der Dagmar Franz-Abbott in fein dosierter Revuemanier ein überzeugendes Regiedebut gab, lebt definitiv von den sehr individuellen und persönlichen Kindheitserfahrungen, die die beiden Darstellerinnen Daniela Nehring und Dörte Trauzeddel einfließen ließen. Das erforderte durchaus Mut und Professionalität, um den Spagat von emotionaler Betroffenheit und Berührung, von schmerzhafter und liebevoller Erinnerung und einer theatergerechten Interpretation zu bewältigen. Als achtjährige Schülerin musste Daniela Nering z.B. damit umgehen, dass ihre »Mutti« Marion ins Visier der Stasi geriet und ins Gefängnis kam, sie selber in ein Kinderheim. »Deine Mutti ist jetzt mal im Urlaub!« Weniger drastisch, aber dennoch aussagekräftig beginnt der der Abend mit der Erinnerung an die beinahe vom Vopo untersagte Kinder-Zirkusvorstellung im häuslichen Keller, die Dörte Trauzeddel und ihre Familie aufgrund der selbst gemalten Plakate arg in Bedrängnis brachte.
Schnell wurde deutlich, wie intim, besonders und authentisch der zum Mauerfalljubiläum ersonnene Theaterabend ist, der mitten ins Herz traf und der neben den wertvollen biografischen Erinnerungssplittern auch nachhörenswerte Originale »made in GDR« ans Tageslicht brachte – z.B. das Lied »Als ich wie ein Vogel war« der Klaus-Renft-Combo, das die raffinierte Kunst hintersinniger Lyrik belegte. Fred Brunner agierte als gewitzter Pianist und DDR-Quizmaster, Wini Gropper war nicht allein mit seinem cool-großartigen »Ritt auf dem Sofa« (1987, Amor & the Kids!) ein überzeugender Sparringspartner in allen Lebenslagen und am Drumset. Unbedingt hingehen!
www.sensemble.de