Sebastian Seidels »Lost in Transit« feierte seine Uraufführung in der neuen Studiobühne des Sensemble Theaters.
Gefangen im Identitätsvakuum

Was macht uns aus? Unser Denken, Fühlen, Handeln? Ja, sicherlich, aber auch ein Stück Papier. Der durchschnittliche Europäer genießt eine weitreichende Reisefreiheit – der deutsche Pass berechtigt zur visumsfreien Einreise in über 170 Länder. Bei demselben Dokument, mit einem afghanischen Stempel versehen, sind es lediglich 25 Staaten. Es zeigt sich: Der falsche – oder sogar gar kein – Pass führt zu weniger Freiheit. Mit eben dieser Abhängigkeit setzt sich Sensemble-Leiter Sebastian Seidel in seinem neuesten Stück »Lost in Transit« auseinander.
Eine Frau (Sarah Hieber) und ein Mann (Florian Fisch) stranden in der Transitzone eines Flughafens. Tasche, Smartphone, Geldbeutel, Pass – alles geklaut. Ihre Reise gerät in Stocken, ihre anfängliche Euphorie wird jäh ausgebremst. Beide waren aus unterschiedlichen Gründen aufgebrochen, um ein neues Leben zu beginnen. Nun sind sie gefangen in einer grotesken Zwischenwelt, in der sie weder vor noch zurück können. Handlungsunfähig, wie sie sind, reflektieren sie ihr Dasein, ihre Identität. Dabei ist ihr Umgang mit der Situation zunächst grundverschieden: Während sich der Mann von allen Sorgen und Zwängen befreit fühlt, verfällt die Frau in einen Schockzustand.
In der Studiobühne des Sensemble Theaters, die mit der Uraufführung von »Lost in Transit« gleichzeitig ihre Premiere als neue Spielstätte des Hauses feierte, agieren die Protagonisten in einer komplett in weiß gehaltenen Szenerie (Ausstattung: Marisa Schulz). Eine Flugzeugtragfläche, die per Leiter zu erreichen ist, samt Turbine bilden den Mittelpunkt des Geschehens. Dabei wechseln die Gestrandeten munter ihre Positionen, sie klettern und fallen, rasten und rennen durch ihr temporäres Gefängnis. Die Charaktere erzählen ihre Erlebnisse in häufig explosiven Monologen – einzelne Wörter treffen sich, Sätze überschneiden sich, Gemeinsames wird sichtbar, Unterschiede werden deutlich. Spannend zu sehen, ob sich daraus ein Dialog entwickeln kann.
In 70 rasant vorbeiziehenden Minuten reißt einen »Lost in Transit« förmlich mit ins Identitätsvakuum. Regisseurin Daniela Nering inszeniert die Geschichte temporeich und fesselnd. Sarah Hieber und Florian Fisch spielen, begleitet von hervorragend ausgewählter Musik (Sound: Serge Davidov) und stimmigen Videoprojektionen (Technik: Gianna Formicone), ungemein eindringlich. Eine großartige Uraufführung, die den wunderbaren neuen Sensemble-Theatersaal mit seinen rund 50 Sitzplätzen mit Leichtigkeit füllen sollte.
Nächste Termine: 2., 3., 9., 10., 16. und 17. Februar. Weitere im März, April und Mai.
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