Die Politik behandelt Kulturschaffende wie lästige Verwandtschaft, die sich aushalten lässt. Ein Kommentar von Jürgen Kannler
Relevant?

Der gegenwärtige Teil-Lockdown wird unser Leben wohl noch bis weit in die zweite Dezemberhälfte hinein prägen. Vielleicht sogar um einiges länger. Es ist zu befürchten.
Die Menschen werden in dieser Zeit zur Arbeit gehen und viel fernsehen. Einige werden Bücher lesen und Spaziergänge machen, geeignetes Wetter vorausgesetzt. Eingeigelt in die eigenen Haushalte mit Besuchsrecht für maximal einen weiteren Kontakthaushalt. Absurd der Gedanke, hier eine richtige Wahl treffen zu können.
Die virtuellen Welten werden das Ihrige dazutun, die Einsamkeit und quälende Langeweile in diesen tristen Zeiten für ihre Angebote gewinnbringend zu verwerten.
Abwechslung vom Alltag versprechen heute nur wenige, handverlesene Einrichtungen. Der Rest ist, per Verordnung, bis auf Weiteres geschlossen. Jedoch nicht von den Parlamenten. Nicht der Souverän, nur wenige Politiker*innen trafen diese Entscheidungen. Die nun vorgenommenen Nachjustierungen beim Infektionsschutzgesetz kritisieren Fachleute wie der Jurist und Kolumnist Heribert Prantl als zu vage. Wer in dieser Situation die Frage nach den Grundrechten stellt, macht sich schnell verdächtig. Läuft Gefahr, als Sympathisant von Aluhutträgern, Rechtsradikalen und andern Spinnern denunziert zu werden. Eine kritische Bürger*innenschaft droht in dieser trüben Brühe unterzugehen.
Doch niemand kann System und Logik der Schließungen schlüssig erklären. Hier entzieht sich die Politik ihrer Verantwortung, auf Bundesbene ebenso wie in den Kommunen. Wer fällt, trotz Umsetzung erfolgreicher, oft kostspieliger Hygienekonzepte und trotz Einhaltung aller AHA-Gebote, durch das Raster, wird in seiner Existenz bedroht und in seinen Rechten beschnitten – und wer nicht?
So ist der Besuch im Museum für Gegenwartskunst verboten. Das Schlendern durch die Bohrmaschinenabteilung des Heimwerkermarktes ist erlaubt. Ein Haarschnitt ist möglich, eine Massage nicht. Der Einnahme einer Mahlzeit beim Italiener um die Ecke wird ein höheres Risiko bescheinigt als dem Einkauf beim schwedischen Möbelgiganten im Industriegebiet. Ein Theaterbesuch bleibt unmöglich. Die tägliche Fahrt in der überfüllten Straßenbahn: für viele alternativlos.
Die Lage ist ernst. Die ungünstige Verhandlungsbasis der Kultur jedoch – leider – auch hausgemacht
Die weitaus meisten Menschen sind bereit, der Pandemie geschuldete harte Einschnitte mitzutragen. Doch diese sollen nachvollziehbar sein, nach Abwägung der Argumente gerecht und demokratisch legitimiert. So ist es aber nicht, und genau so wird es von den Bürger*innen auch wahrgenommen.
Neben Schule, Arbeit und Verkehr erfährt gegenwärtig lediglich der private Konsum eine bemerkenswerte und privilegierte Sonderbehandlung. Einkaufen als Ersatzhandlung für live erlebte Kunst und Kultur, Reisen, Restaurantbesuche, Sport- und Gesundheitsangebote. All diese Bereiche zählen zu den besonderen Härtefällen unter allen Corona-Verlierern.
In der Hoffnung auf eine Zeit nach Corona setzt man zu Recht auf eine starke Wirtschaft, um die dann noch anhaltende Krise zu überwinden. Dabei wird vergessen, dass genau diese gegenwärtig abgehängten Branchen zu den effektivsten Motoren unserer Gesellschaft zählen.
So betrug 2019 allein der Beitrag der rund 1,8 Millionen Beschäftigten in der deutschen Kultur- und Kreativwirtschaft zur volkswirtschaftlichen Gesamtleistung über 106 Milliarden Euro. Wir erleben gerade, wie diese Industrie auf Dauer beschädigt wird.
Die Lage ist ernst. Die ungünstige Verhandlungsbasis der Kultur jedoch – leider – in weiten Teilen auch hausgemacht. Trotz ihrer Bedeutung schaffen es die Unternehmen und Beschäftigten aus der Kultur- und Kreativwirtschaft, um bei diesem Beispiel zu bleiben, nicht, sich mit lauter und klarer Stimme zu Wort zu melden. Es existiert weder ein ernst zu nehmender Unternehmerverband noch ein nennenswerter gewerkschaftlicher Organisationsgrad bei den Beschäftigten. Einzelkämpfer*innentum prägt die Branche. Das rächt sich nun in Euro und Cent, aber auch in Form öffentlicher Missachtung und Respektlosigkeiten. Eine Bundespolitik, die den Beschäftigten aus der Automobilindustrie oder den Landwirt*innen Corona-Hilfe auf der Basis von Hartz IV anbieten würde, hätte ausgespielt. Und ein Ministerpräsident, der diese Betriebe in einem Atemzug mit Bordellen, Spielhallen und Vergnügungsparks nennen würde, könnte seine Sachen packen. Nicht so in der Kultur.
Einem breiten Bündnis in der Kultur steht die Uneinigkeit ihrer Macher*innen im Weg. Das hat viele Gründe. Der entscheidende aber ist Geld. Nicht wenige, durchaus einflussreiche Kulturarbeiter*innen bekommen ein monatliches Festgehalt, meist aus Kommunal- oder Landesmitteln. Viele Einrichtungen werden lange Jahre über dieselben Töpfe gefördert. Andere müssen für jedes Projekt aufs Neue Förderungen beantragen. Die Vergabepraxis ist nicht immer transparent und somit wenig nachvollziehbar. Dieses System schafft Abhängigkeiten, Misstrauen, Ängste. Selbstbestimmtes und -bewusstes Auftreten wird von den Vergabestellen nicht immer geschätzt.
Das Schreiben an Markus Söder von Ende Oktober, in dem die einflussreichsten bayerischen Intendant*innen die Politik des Ministerpräsidenten »nicht nachvollziehbar und kulturblind« nannten und einen erweiterten Spielbetrieb forderten, ist in seiner Schärfe und als Zeichen der Allianz der Unterzeichnenden eher die Ausnahme und wird von der Politik auch so bewertet. Wenige Tage nach Veröffentlichung wurden alle Theater geschlossen.
Das Beste, was sich aus diesem Vorgang ableiten lässt, ist: Kultur wird von der Politik nicht als systemrelevant erachtet. Das stimmt, sie ist nämlich viel mehr. Sie ist gesellschaftsrelevant. Dieser Position darf man sich im Geiste von Künstler*innen wie Bert Brecht, Aretha Franklin, Christoph Schlingensief oder Maria Lassnig wohl anschließen, nicht jedoch ohne im Anschluss daran den Stellenwert der Kultur und Kultur in unserer Gesellschaft und die Rollen ihrer Macher*innen und Orte zu überdenken und Konsequenzen daraus zu ziehen.
HochRegal
Deinstallation / anonyme Künstler*innen / 2020
Die Betrachter*innen werden von dieser Auseinandersetzung mit dem hoheitlichen Privileg der Verfügbarkeit brutal in die Gegenwart katapultiert.
Als Verfügbarkeit zum jederzeitigen Abruf x-beliebiger, noch nicht montierter Werke kennzeichnen die Künstler*innen die gewaltigen Lagerschluchten.
Preis nach Gewicht und Menge.