42.000 zerbrechliche Fundstücke

Brechts Augsburger Fotograf und dessen Glasnegativ-Nachlass. Ein Gastbeitrag von Michael Friedrichs
Fast jede:r kennt das Phänomen aus der eigenen Familie: Da gibt es alte Fotos, sehr schön, stimmungsvoll usw., vielleicht auch gut gefüllte Diakästen – aber wer bitte ist abgelichtet? Personen, die das wussten, sind verstorben, und da sie es ja wussten, haben sie die Bilder seinerzeit nicht beschriftet. Und jetzt? Aufheben? Wegwerfen? Einscannen?
So ähnlich, nur in anderer Dimension, ist die Situation hinsichtlich des fotografischen Teil-Nachlasses des Augsburger Fotografen Konrad Reßler: Ein Bestand von 42.000 Glasnegativen aus seinem Atelier, zumeist gut erhalten. Konrad Reßler ist der Fotokünstler, der im Herbst 1927 (ein Jahr vor der Uraufführung der »Dreigroschenoper«) die berühmten 32 Fotos »Brecht in überweitem Ledermantel« machte. Der zeigt sich da immer posierend, vor wechselndem Hintergrund, meist sitzend, manchmal lächelnd, auch mit Zigarre. In einem großformatigen, sorgfältig edierten Buch erschienen die Aufnahmen erstmals 1987 und seither in mehreren Auflagen. Der Fotohistoriker Michael Koetzle, der seinerzeit das kenntnisreiche Nachwort zu dem Fotoband schrieb, war am 26. Januar im Brechthaus von der Buchhandlung am Obstmarkt zu einer Diskussion über die Bedeutung dieser Brecht-Bilder und der weitgehend unbekannten 42.000 anderen Aufnahmen des Studios Konrad Reßler eingeladen.
Anmerkungen zu den Brecht-Atelierbildern
Michael Koetzle äußerte die Vermutung, dass es wohl Reßler war, von dem die Initiative zu dem Fotoshooting ausging. Reßler war ebenso wie Vater Brecht Mitglied der Augsburger Honoratiorenriege, er hatte die Familie schon seit Eugens Kindertagen abgelichtet: Das Atelierfoto »Stehendes Kleinkind im weißen Hemde mit Strohhut und Trompetchen« von 1899, eine Art Frontispiz in Werner Hechts »Brecht: Sein Leben in Bildern und Texten« (1978), trägt die stolze Signatur »Gebr. Martin, Inh. K. Ressler, Bahnhofstr. 24«. Reßler hat sicher mitbekommen, wie Brechts Stern, nachdem er aus Augsburg weggegangen war, in der Theater- und Literaturwelt rasch stieg, erst in München, dann in Berlin, und er könnte sich gesagt haben, als dessen Aufenthalte im heimischen Augsburg seltener wurden, den hol ich mir mal ins Atelier.
Auch das Umgekehrte ist vorstellbar, Notizen dazu kennen wir von beiden Seiten nicht, aber es ist weniger wahrscheinlich. Die Bekanntschaft Brechts mit dem Maler Rudolf Schlichter, der ihn in brauner Lederjacke und mit Zigarre porträtierte, wird in der Brecht-Forschung auf 1926 (Hecht Chronik Ergänzungen, 2007, S. 16) datiert; das Münchner Lenbachhaus, das dieses Porträt ausstellt, datiert es auf »um 1926«. Und im August 1927 war in der populären Zeitschrift Uhu das von Brecht sorgfältig arrangierte Arbeitszimmerfoto mit dem Boxer Paul Samson-Körner erschienen, es sollte laut Brechts Notiz zeigen, dass er »fast alles mit andern zusammen« arbeite (BFA 21, S. 207). Brecht hatte also bereits eine Situation geschaffen, in der andere daran interessiert waren, ihn abzubilden, er musste dafür nicht selbst investieren.
Den Sommer 1927 verbrachte Brecht weitgehend in Augsburg, die Gelegenheit war also günstig für Reßler. So oder so, es ist inzwischen offensichtlich, dass Brecht sich auf diese Sitzung vorbereitet hat: durch einen Fototermin mit einem Freund oder vielleicht mit seinem Bruder Walter. Denn als lose Einlagen in dem Album von Walter Brecht, das 2014 bekannt und dann von der Augsburger Staats- und Stadtbibliothek digitalisiert wurde (3gh 4/2016) und auf deren Homepage verfügbar ist, gibt es einige Bilder, auf denen er ähnlich posiert wie bei Reßler (Beilage M1-M6).
Reßler hat, wie Koetzle notiert hat, im Dezember 1927 prompt eines seiner Brechtporträts im Schaukasten für die Werbung verwendet, zusammen mit Bildern vom Bischof und vom Oberbürgermeister, also Brecht bereits als Promi. Und in den Augsburger Neuesten Nachrichten (18. Mai 1929) schmückt eines dieser Bilder einen Feuilleton-Artikel über Brecht. Brecht selbst jedoch hat diese Bilderserie offenbar nie verwendet, vielleicht nicht einmal besessen – gerade deshalb fand ihre Veröffentlichung sechzig Jahre später so große Aufmerksamkeit. Sie wurden zu dem Bild, das sich viele von Brecht machten, das aber offenbar nicht dem entsprach, wie er sich selbst sah oder gesehen werden wollte.
Anmerkungen zu den Glasnegativen
Die Ungeduld, zu erfahren, was bzw. wer denn nun alles auf den vielen Glasnegativen aus dem Atelier Reßler abgelichtet wurde, ist nachvollziehbar, immerhin liegen die Glasnegative nun seit 2015 im Augsburger Stadtarchiv. Da liegt natürlich auch vieles andere, und es ist eben die Aufgabe eines Stadtarchivs, Dinge zu archivieren. Aber nun wurden auch Erwartungen geschürt: Welche kostbaren Brecht-Fotos werden uns da vorenthalten? Und zur Diskussionsveranstaltung wurde nicht das Stadtarchiv eingeladen, sondern eine auswärtige, auf Digitalisierung spezialisierte Firma, die ihre technischen Fähigkeiten und ihre niedrigen Stückpreise darlegte. Erst in der anschließenden Diskussion, aus dem Publikum heraus, konnten die Leiterin des Stadtarchivs Kerstin Lengger, Dominik Feldmann und die Stadtdirektorin Melanie Haisch das Wort ergreifen.
Da war es dann schon eine Überraschung, zu erfahren, dass Dominik Feldmann bereits »eine niedrige vierstellige Zahl« der Glasnegative genauer gesichtet hatte. Das war Grund genug für mich, im Anschluss Herrn Feldmann um einen Gesprächstermin zu bitten, der auch rasch zustande kam.
Die Glasnegative sind nummeriert ab 80.000 bis 100.000, nur eine Handvoll hat niedrigere Nummern. Die ältesten stammen aus der Zeit 1925/26 – jedenfalls gibt es darunter eine Faschingsabbildung der Hollaria, die auf 1926 datiert ist. (Bilder vom jüngeren Brecht können also nicht darunter sein.) Ansonsten sind die Negative zwar am Rand (schwer lesbar) beschriftet, aber weder mit Datum noch mit Eigennamen; vermutlich ist dort vermerkt, was mit den Negativen bei den Abzügen geschehen sollte: Atelier, Kabinett, Künstler(rahmen?). 1911 hatte Reßler bereits sechs Mitarbeiter. Eine zweite Serie setzt Mitte der Vierzigerjahre ein. Wie lange wurden Glasnegative überhaupt benutzt? In den Dreißigerjahren wurden sie allmählich vom Rollfilm verdrängt, dann kam auch bald schon die Farbfotografie.
Was ist zu sehen? Da gibt es Burschenschaftlerbilder, teils mit Säbel – schwer zu sagen, warum Burschenschaftler sich in der universitätsfernen Stadt Augsburg ablichten ließen. Da gibt es Schulklassen – sie könnte man vielleicht am ehesten einigermaßen zuordnen oder identifizieren. Es sind alles Studioaufnahmen – denn wenn Reßler sich für städtische Aufträge bewarb, kam er nicht zum Zuge, er war zu teuer.
Das Textilmuseum interessiert sich für die erkennbaren Nuancen in der Mode zwischen 1925 und 1930, höre ich. Man ließ sich im Sonntagsstaat fotografieren, und der entwickelte sich weiter. Arbeitskleidung ist nirgends zu sehen; einmal gibt es schwäbische Bauerntracht, aber die ebenfalls im Sonntagsstaat.
Als Forschungsprojekt könnte sich auch eine Kollektion von jungen Frauen eignen, die als »BDM«-Mitglieder posierten, da gibt es teilweise auch Eigennamen. Ein Beispiel: Frau R. O., Glasnegativ Nr. 91249, ist im Einwohnerbuch 1936 als »Gauleiterin des B. D. M.« eingetragen.
Die Bilder faszinieren durch ihre hervorragende Qualität – das Bildformat 12 × 16,5 cm ermöglicht einen großen Detailreichtum. Allerdings, wie Dominik Feldmann sagt, »je mehr man davon sieht – geht der Charme verloren«.
Im Januar hat das Stadtarchiv damit begonnen, Bilder als »Slideshow« auf seine Homepage zu stellen (https://www.augsburg.de/kultur/stadtarchiv-augsburg/ausstellungen/konrad-ressler), etwa hundert Stück, das soll monatlich fortgesetzt werden. Das entspricht auch etwa dem Vorschlag von Michael Koetzle, wie die Stadtgesellschaft die Möglichkeit wahrnehmen könnte, Bekannte zu identifizieren.
