Erinnern, Lernen, Verändern
Ein erster Schritt in Richtung einer gelebten »postmigrantischen Gesellschaft«. Ein Gastbeitrag von Margret Spohn und Bianca Wagner
Erinnerungskultur wird bis dato in Deutschland in erster Linie mit Bezug auf die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und dem Gedenken an den Holocaust definiert. Sie spielt eine zentrale Rolle in der Art und Weise, wie Gesellschaften ihre Geschichte kollektiv bewahren und interpretieren. In postmigrantischen Gesellschaften, in denen Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenleben, stellt sich die Frage, ob diese geradlinige Erinnerungskultur der Zusammensetzung unserer Gesellschaft noch gerecht werden kann. Wie kann die bestehende Erinnerungskultur in der jetzigen Form auch Teil der Erinnerung der zugewanderten Menschen werden? Wie muss kollektive Erinnerung mit traumatischen Ereignissen und Erfahrungen umgehen, die speziell zugewanderte und geflüchtete Menschen mitbringen? Es ist eine große Herausforderung, diese vielfältigen Erinnerungen zu würdigen. Es geht hier um den Umgang:
• mit der Bewahrung bzw. eventuellen Anpassung der derzeitigen Erinnerungskultur und deren Vermittlung in didaktische Formate
• mit historischen kollektiven Traumata, die im kollektiven Gedächtnis Zugewanderter verankert sein können. Beispiele können hier der von deutschen Kolonialisten verübte Völkermord an den Herero und Nama bei Menschen aus Namibia oder die Vertreibung und Vernichtung von Menschen unterschiedlichster Ethnien und Religionen aus den Gebieten des ehemaligen Osmanischen Reiches bei Zugewanderten aus der heutigen Türkei sein
• mit aktuellen kollektiven Traumata von Geflüchteten, beispielsweise aus Bosnien (Genozid an den Bosniaken im Bosnienkrieg von 1992 bis 1995) oder dem Irak und Syrien (Genozid an den Jesiden durch den Islamischen Staat)
• mit Traumata, die erst in der Migrationsgesellschaft entstanden sind (sinnbildlich hier die Attentate von Hanau, Halle, München (OEZ), Mölln, Solingen, die Morde des NSU usw.).
Meist stehen die Erinnerungen der Migrantinnen und Migranten im Schatten der dominanten nationalen Narrative. Dies kann zu einem Gefühl der Marginalisierung und Nichtanerkennung des eigenen Leids führen. In Fällen wie Hanau liegt die Aufgabe der Erinnerungsarbeit bis heute hauptsächlich in den Händen der Hinterbliebenen. Hier drängt sich die These auf, dass es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handeln müsste. Immerhin stammten die Täterinnen und Täter aus der Mitte der Gesellschaft und sind in Deutschland sozialisiert worden.
Im Frühjahr 2024 hat das Büro für gesellschaftliche Integration im Vorfeld der »Wochen gegen Rassismus« einen solchen Raum für gesamtgesellschaftliches Erinnern geschaffen: Die Denkstätte »Erinnern, Lernen, Verändern« öffnete zum Jahrestag des Attentats von Hanau, dem 19. Februar, im Herzen der Stadt Augsburg, in der Annastraße.
Sie lud Augsburgerinnen und Augsburger ein, sich der Opfer rechtsextremistischer, antisemitischer und rassistisch motivierter Anschläge zu erinnern und durch Ausstellungen, Lesungen und Begegnungen etwas darüber zu lernen. Das soll Mut machen, gegen Antisemitismus, Formen des Rassismus und allgemein gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit einzutreten und so unsere Stadtgesellschaft positiv zu verändern.
In den Schaufenstern des umgewidmeten Ladens hingen die Porträts der neun in Hanau ermordeten Menschen. Viele Passantinnen und Passanten blieben andächtig davor stehen und erinnerten an die Opfer. Für uns war dies ein starkes Zeichen, dass auch hier in Augsburg das kollektive, öffentliche Erinnern an die Opfer Hanaus einen Platz haben kann. Die Denkstätte war ein Ansatz, um vielschichtigere und weitläufigere Erinnerungskultur zu fördern. Dies ist ein erster Schritt in Richtung einer gelebten »postmigrantischen Gesellschaft«.
Dr. Margret Spohn
Leiterin des Büros für
gesellschaftliche Integration.
© Frauke Wichmann
Bianca Wagner
Büro für gesellschaftliche
Integration, Organisatorin der
Wochen gegen Rassismus
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