Olha Kobyljanska (1863–1942) veröffentlichte 1904 in einem Berliner Verlag erstmals eine größere Sammlung ihrer Kurzgeschichten. In dem Band »Die Schlacht« sind in Form des Natural Writing bereits große Fragen der (De-)Kolonisierung formuliert, die seinerzeit auf den Raubbau habsburgischer Industrieller in den karpatischen Wäldern hindeuteten. Dieses Thema ist auch gegenwärtig relevant, wird aber von dem titelgebenden Zustand noch übertroffen: »Hellrotes Siegesfeuer prasselt nach solcher Überwindung in die helle Nacht hinein, während die Helden, im Kreise lang ausgestreckt, ihre Pfeifen rauchten und die Widerstandskraft des Urwalds besprachen.«
Diese und die anderen Kurzgeschichten sind per Open Access im Internet zu finden und laden zum Blick in die fantastische Welt der Karpaten ein.
Die Zwischentöne aus dem Osten.
Oder: »ich will leben«
Des Weiteren sind es die Lyrik und (epochen-/grenzübergreifende) Familiengeschichten, die zum besseren Verständnis von Land und Leuten beitragen. Selma Meerbaum-Eisinger (1924–1942), bukowinische Lyrikerin, starb 18-jährig in einem Arbeitslager in Transnistrien als Opfer des Holocausts. Als junge Frau und selbst noch im Lager, auf Stofffetzen und Ähnlichem, schrieb sie ihre berührenden Verse, die von der Sehnsucht nach Leben erzählen, einem Leben, das sie selbst nie kennenlernen sollte. So wie beispielsweise im Gedicht »Poem«:
Ich möchte leben. / Ich möchte lachen und Lasten heben / und möchte kämpfen und lieben und hassen / und möchte den Himmel mit Händen fassen / und möchte frei sein und atmen und schrein. / Ich will nicht sterben. Nein! / Nein.
Selma Meerbaum-Eisinger erreichte leider nie ein größeres Publikum, aber dank des persönlichen Engagements einiger Holocaust-Überlebender konnte ihr Werk in Israel gesichert und später übersetzt und verbreitet werden. Daneben wurde es vielfach vertont. Ihre Gedichte verdienen heute noch immer (mehr denn je?) viele Leser*innen.
Andere bukowinische Autoren wurden mit bedeutenden Auszeichnungen versehen, allen voran Paul Celan (1920–1970). Als er 1960 mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet wurde, verwies er auf jenen »Meridian«, der auf der Nord-Süd-Achse verschiedene Orte miteinander verbindet, die in der Literaturgeschichte bedeutsam waren, u.a. die Geburtsorte von Karl Emil Franzos oder Jakob Michael Lenz, aus dem Bewusstsein aber verschwanden. Aus der Rede selbst und dem Vermächtnis Celans entwickelte sich seit den frühen 2000er-Jahren das Literaturfestival »Meridian Czernowitz« im ukrainischen Tscherniwzi, einem Knotenpunkt des Kulturlebens der heutigen Ukraine. Zu den Hintergründen dieses Festivals und zu (west)ukrainischen Dissidenten und »Medienmenschen« in der späten Sowjetzeit schrieb Peter Pomerantsev sein Buch »Das ist keine Propaganda: Wie unsere Wirklichkeit zertrümmert wird« (München, 2020) – neben kulturgeschichtlichen Einblicken auch eine wichtige Ergänzung zum gegenwärtigen Mediengeschehen in Russland.
Ihre Familiengeschichte betrachtend schrieb Natascha Wodin »Sie kam aus Mariupol« und erhielt im Jahr 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse für das Werk. Der Ausspruch »Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe« stammt von der Mutter der Ich-Erzählerin, die als Zwangsarbeiterin nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland (genauer in Franken) im Jahr 1956 Selbstmord verübt, ohne den zurückbleibenden Kindern (damals 4 und 10 Jahre alt) Näheres über Herkunft und Umstände der Verschleppung zu erklären. Die damals 10-jährige Natascha Wodin kehrt als gut 60-jährige Frau zu den eigenen Wurzeln zurück und entwirrt mittels Suchmaschinen im Internet und verschiedenen Briefen an staatliche Behörden in der Ukraine die Familien- und auch Teile der Landesgeschichte. »Mariupol« – ein Begriff, der für uns aktuell als Synonym für totale Zerstörung aufgrund des Kriegsgeschehens steht, wird dank Natascha Wodins Beschreibungen zugänglich und gibt auch Teile des griechischen Erbes der Siedlungsgeschichte preis.
Ebenso facettenreich und multiethnisch ist Charlotte Roths Roman (in zwei Teilen) über die Hafenstadt Odesa/Odessa. Hierbei folgt die Autorin der Geschichte der Stadt von den 1860er-Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ebenfalls in Form einer Familiengeschichte: der Geschichte der Schwarzmeerdeutschenfamilie, die das prächtige und namengebende »Grandhotel Odessa« gründete und gegen alle Widerstände der Geschichte bis zur schließlichen Enteignung durch die kommunistische Regierung nach Ende des Zweiten Weltkriegs führte. Darin erfahren wir etwas über den Aufstieg der Hafenstadt zur mondänen Metropole am Schwarzen Meer im 19. Jahrhundert, aber auch zu den Schrecken des Ersten Weltkriegs und des folgenden Bürgerkriegs und was diese Entwicklungen für die Menschen vor Ort bedeuteten.
Das einstige Grandhotel überstand auch die dunkelste Zeit und war bis vor Kurzem als »Hotel London« an der Promenade der Hafenstadt Odesa weiterhin für Besucher*innen geöffnet. Heute liegen Sandsäcke vor dem Eingang und die Fenster sind verbarrikadiert.
Geschichten, die uns weiter in die östlichen Landesteile führen, stammen in der jüngeren Zeit vor allem von Serhij Zhadan (*1974) und Andrij Kurkow (*1961). Bedeutsam hierbei ist, dass alle diese Werke kurz nach dem Erscheinen bereits in deutschen Übersetzungen vorlagen. Der Künstler Serhij Zhadan ist vor allem als Lyriker und Autor bekannt, schreibt aber auch Essays, engagiert sich in musikalischen Projekten und aktuell stark in der Verteidigung seiner Heimatstadt Charkiw in der Ostukraine. In »Mesopotamien« (2015) stellt er eine namenlose Großstadt in der russischsprachigen, alkoholgetränkten und durch mehrfache biografische Brüche zerrütteten Welt eindrücklich und einfühlsam vor. Latente Gewalt ist immer spürbar und wird teils konkret von den Protagonisten im zwischenmenschlichen Bereich erlebt. Es gibt aber weiterhin die Sonnenuntergänge am Stadtrand, die eine friedliche Welt machbar erscheinen lassen. Diesen Horizont der Hoffnung hat er im jüngsten auf Deutsch erschienenen Werk »Internat« (2018) nochmals verkleinert. Ein mäßig motivierter Lehrer muss aufgrund des Kriegsbeginns 2014 im Donbas seinen Neffen aus dem Internat abholen, das über Nacht auf der anderen Seite der Grenze liegt. Bis der Entschluss gereift ist, diese Rettungsaktion zu realisieren, sind bereits Straßenposten errichtet, Panzer rollen durch die Stadt und das dauernde Grollen von Schüssen begleitet diese Reise.
Im gleichen Zusammenhang beschreibt Andrij Kurkow (in Russland geboren, in Kiyv lebend) im Roman »Graue Bienen« (2019) das Schicksal eines Hobbyimkers, der aufgrund des Kriegs im Donbas seine Bienen jenseits der Frontlinie nunmehr mittels einer abenteuerlichen Rettungsaktion befreit und sich selbst in bis dahin unbekannte Regionen des eigenen Landes vorwagt – und doch am Ende wieder in den Donbas zurückkehrt, weil auch die Bienen in der Fremde krank werden.
Persönliche Verzweiflung, Heimatlosigkeit und ständige Kriegsangst sind die Begleiter dieser Romane. Erschreckend aktuell und menschlich sehr zugänglich. Das alles ist die Ukraine, in Europa. Die Literatur liefert einige Hintergründe. Das Verständnis müssen alle gemeinsam erarbeiten.
Titelbild: Am 10. November 2017 war der bekannte ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan in Augsburg zu Gast. Der Saal des Grandhotel Cosmopolis war bis auf den letzten Platz gefüllt. Foto: Bukowina-Institut