Der Buchmensch
Herr Idrizovic, Ihr Vater, ein Moslem aus Montenegro, kämpfte im Krieg auf deutscher Seite. Ein zerschossenes Bein verschlug ihn nach Augsburg, wo er Ihre Mutter kennenlernte. Sie wuchsen im Nachkriegslechhausen auf. Wie kann man sich diese erste Phase Ihres Lebens vorstellen?
Ich bin in einem klassischen Arbeiterquartier aufgewachsen. Es war im Grunde genommen eine Schicksalsgemeinschaft. In diesen Blöcken gab es viele Kriegsopfer, die entweder psychisch oder physisch sehr angeschlagen waren. Mein Vater war fast taub und hatte große Schwierigkeiten beim Gehen. Da fast alle in unserer Umgebung irgendwie kriegsversehrt waren, gab es eine Solidarität zwischen diesen Menschen. Unsere Nachbarn haben wohl mit mehr oder weniger Staunen zur Kenntnis genommen, dass bei uns etwas anders ist. An manchen Freitagen kamen seine Glaubensbrüder aus München und man betete zusammen im Wohnzimmer. Doch nachdem mein Vater ja auch Soldat war, als ein freundlicher Mensch galt und seinen Job als Hilfsarbeiter bei Prinz ordentlich erledigte, waren sein Glaube oder seine Herkunft kein Thema.
Nach einer Ausbildung besuchten Sie das Bayernkolleg. Wie wurde dieser Schritt von Ihren Eltern aufgenommen?
Meinem Vater war das Bildungssystem völlig fremd. Ich war zunächst kaufmännischer Lehrling. Das war für ihn noch nachvollziehbar. Aber von dem, was mit meinem weiteren Bildungsweg zu tun hatte, konnte er sich keine Vorstellung machen. Meine Mutter hatte da schon mehr Einblick. Ihr sprachlicher Zugang war aber auch ein ganz anderer. Sie arbeitete als Angestellte in Lechhausen und war schon früh Mitglied der Büchergilde Gutenberg.
Sie machten in den 60er-Jahren Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Wie haben Sie als literaturinteressierter junger Mann damals die Stimmung in Augsburg wahrgenommen?
Ein literarisches Angebot gab es in Augsburg erst einmal gar nicht. Die Szene war zwischen bürgerlichen, katholischen und evangelischen Buchhandlungen aufgeteilt. Für mich gab es da kaum einen Zugang. Prägend war vielmehr ein Literaturkreis, der von Michael Tonfeld initiiert wurde. Er war eigentlich Drucker, kam aus der Gewerkschaftsbewegung und brachte junge Grafiker mit literaturinteressierten Leuten zusammen. Aus dieser Runde entwickelte sich auch die eine oder andere kleinere Publikation.
Welche Autoren waren für Sie zu dieser Zeit von Bedeutung?
Günter Wallraff und Walter Kempowski kennt man aus dieser Zeit vielleicht noch. Das Format Arbeiterliteratur war damals eigentlich nur bei den Gewerkschaften angedockt. Damit in Berührung zu kommen war für mich die Vorstufe zum politischen Leben und Denken. Das kam bei mir aber erst so richtig auf dem Kolleg in Bewegung. Vorher war ich gar nicht so wahnsinnig politisiert und las am liebsten Abenteuergeschichten.
Wie haben Sie die 68er erlebt?
In Augsburg gab es den legendären Republikanischen Club. Man traf sich im Café Rehak in der Bahnhofstraße. Ich war an dieser Szene sehr interessiert, hatte allerdings noch nicht die intellektuellen Fähigkeiten, dort in die Debatten einzugreifen. Aber wir nutzten damals auch die Möglichkeit, uns über lange Haare und die Kleidung auszudrücken.
Wann hatten Sie das Gefühl, dass Sie sich selbst engagieren können?
Am Bayernkolleg lernte ich die Schülermitverwaltungen kennen. Es gab Streiks. Da waren wir zum ersten Mal an rhetorischen Scharmützeln beteiligt. Wir hatten damals auch Mitglieder der Jungen Union oder von den Jusos am Kolleg, die uns natürlich rhetorisch ein Stückchen voraus waren. Ich habe damals viel über Auseinandersetzungen und Hierarchien gelernt: Schüler, Lehrer und Direktor, und welchen Unterschied es bedeutet, ob man Macht hat oder ob man keine Macht hat.
Sie haben einige Jahre in München Kommunikationswissenschaften studiert, aber nie dort gelebt?
Nein. Ich bin, wie die meisten meiner Freunde, gependelt. München war uns zu groß. Wir hatten immer den Lebensmittelpunkt in Augsburg, sowohl den geistigen als auch den räumlichen.
Haben Sie je bereut, Augsburg nie verlassen zu haben?
Nein, ich habe das nie bereut. Ich wusste genau, ich kann mich nur in dieser Stadt entfalten. Das ist meine Stadt, da kenne ich alle Wege. Das ist vielleicht auch eine gewisse Bequemlichkeit, aber jede andere Option hätte nicht zu mir gepasst. Ich bin nicht der Typ, der sich in anderen Städten wohlfühlen kann.
Hat das vielleicht mit Ihrer familiären Situation zu tun?
Bestimmt. Alles, was mit Reisen zu tun hat, ist bei mir negativ besetzt. Ich musste schon als kleiner Junge nach Jugoslawien. Im hintersten Montenegro habe ich überhaupt nicht kapiert, was da alles abgeht. Ich war sehr empfindlich und konnte weder das Essen noch das Klima vertragen. Mein Vater wollte, dass ich seine Welt kennenlerne. Doch Sie blieb mir fremd. Ich weiß noch genau, wie das war, wenn ich nach sechs Wochen von oben bis unten verdreckt wieder nach Hause kam und dann sauber gewaschen und gebadet in meinem Bett lag. Diesen Geruch nach Wäschestärke und Kinderzimmer habe ich noch heute in der Nase. Ich war immer froh, wieder nach Hause zu kommen und mit meinen Freunden Fußball spielen zu können. Das war für mich Glück.
Hat diese Abneigung gegen seine Heimat Ihren Vater nicht enttäuscht?
Mein Vater war vielleicht enttäuscht, aber nicht einmal das konnte er rüberbringen. Er hat mit seinem Schicksal gehadert. Er war weder Montenegriner noch Deutscher. Er war gar nichts mehr, und das war für ihn immer furchtbar. Er konnte das aber nicht ausdrücken, weil seine sprachliche Entwicklung einfach nicht so gut war. Er konnte nur wenig Deutsch, aber auch immer weniger Jugoslawisch. Er hat keine Schulbildung gehabt, gar nichts. Ich habe meinem Vater irgendwann ein bisschen das Rechnen beigebracht, ansonsten war er sein Leben lang irgendwo zwischen diesen Welten aufgerieben.
Haben sich die literarischen Helden Ihrer Kindheit und Jugend zu einer Art Ersatzfamilie entwickelt?
Ja, das stimmt. Da waren auf der einen Seite die Leben der literarischen Biografien, egal ob sie von Mark Twain oder Jack London kamen. Seereisen, Abenteuer, alle Dinge, die interessant sind, die man aber nicht selber machen muss. In Jugendromanen, die waren damals noch etwas anders als heute, habe ich zum ersten Mal Lebensentwürfe erfahren, die ich selber nicht kannte, zum Beispiel glückliche Familien. Wir haben zu Hause alle Schläge gekriegt. Das wurde gar nicht hinterfragt. Dass man nach Hause kommt und keine Angst vor seinem Vater hat, das kannte ich nur aus den Büchern.
Wann haben Sie zu Ihrer großen Leidenschaft Brecht gefunden?
Recht spät, erst als ich 1984 die kleine Niederlassung der Büchergilde Gutenberg am Fischertor von meiner Mutter übernommen habe.
Sie publizierten lange Jahre das Dreigroschenheft, betreiben in Ihrer Buchhandlung am Obstmarkt den Brechtshop, organisierten schon zahllose Veranstaltungen zum Thema und waren auch maßgeblich daran beteiligt, dass Joachim Lang zum Leiter des Brechtfestes in Augsburg wurde. Sie gelten sowohl als Brechtliebhaber wie auch als Brechtkenner. Sind Sie damit einverstanden, wie die Brechtstadt Augsburg mit seinem Andenken umgeht?
Schwere Frage. Ich bin zumindest damit einverstanden, dass vor wenigen Jahren überhaupt angefangen wurde, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Es gab auch Zeiten, in denen das nicht der Fall war und die Stimmung in der Stadt von einer reaktionären Anti-Brecht-Stimmung dominiert war.
Diese Stimmen gibt es immer noch, aber sie spielen heute kaum mehr eine Rolle.
Genau. Die Stadt hat sich auf den Weg gemacht. Es wird immer anstrengend und schwierig sein, hier im brechtschen Sinne zu agieren. Aber das ist ja auch im brechtschen Sinne, dass etwas nie genug ist und dass man immer daran arbeiten muss. Ich sehe schon die Schwierigkeiten und manchmal ärgere ich mich auch, weil vieles noch zu langsam geht, aber man versucht – sei es nun über das Festival oder die Ansätze durch die Regio oder das Theater –, Brecht als Augsburger, als einen von uns zu sehen. Es wird jetzt auf höherem Niveau diskutiert.
Sie sind durchaus jemand, der, wenn es nicht schnell oder klar genug geht, Revolutionen anzetteln kann.
Das stimmt. Das ist der Vorteil, wenn man nicht in der Politik ist. Ich habe mir ja vorgenommen, nie in die Politik zu gehen, weil ich immer das Gefühl hatte, in der Politik kann man weniger machen, als wenn man frei ist.
Bei der Diskussion um das Brechthaus ist der Siedepunkt noch nicht erreicht, oder?
Beim Thema Brechthaus ist viel Dampf im Kessel. Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Wie diskutieren Sie mit Ihren Buchhändlerkollegen den Schiefstand von Weltbild? Hat die Nummer zwei im Versandbuchhandel nach Amazon noch eine Chance?
Es ist egal, ob man heute Erster oder Zweiter ist. Man muss der Beste sein, und Weltbild tut sich da schwer. Auf Dauer wird das Schiff Weltbild wohl nur schwer auf Kurs zu halten sein. Als Augsburger sehe ich natürlich vor allem, wie fürchterlich diese Situation für die Belegschaft ist. Als Buchhändler muss ich allerdings ganz ehrlich sagen, dass Weltbild mit seinem Billigkonzept vielen Kollegen sehr geschadet hat.
Sie haben sich mit einigen lokalen Buchhandlungen zum Interessenverband Literaturteam zusammengeschlossen. Können Sie erklären, was eine Buchhandlung haben sollte, wenn sie das Sterben in der Branche überleben will?
Man sollte – wie in jedem Geschäft, das man macht – genau wissen, was man tut, und im besten Fall dazu noch eine Nische besetzen. Jedes Ladenkonzept, wofür man viel Fläche braucht, ist schwierig umzusetzen.
Neben dem Buchhandel sind Sie seit Jahren auch als Veranstalter aktiv. Ist dieses Engagement Leidenschaft oder wirklich ein Profitcenter Ihres Geschäfts?
Die Formel heißt vielleicht: zwei Drittel Leidenschaft und ein Drittel Marketing für den Laden. Man kann Veranstaltungen auf Dauer nicht nur zum Spaß, aber man kann ohne Spaß auf Dauer auch keine Veranstaltungen machen. Es gehört beides zusammen. Wenn wir Formate anbieten, die den Leuten Spaß machen, dann kann man damit auch Geld verdienen.
Sie gelten als ziemlich gewiefter Netzwerker. Zu Ihren Kooperationspartnern gehören das Stadttheater und Gewerkschaften, die Wirtschaftsreferentin moderiert Ihren Literatursalon und mit einer Handvoll Gleichgesinnter haben Sie vor einigen Jahren den Neubau der Stadtbücherei gegen den Willen der damaligen Regenbogenregierung durchgesetzt. Wie ist es denn, so eine Phalanx zu organisieren?
Aus heutiger Sicht würde ich sagen, wir hätten es anders machen müssen, aber genau das brachte den Erfolg: mit wenigen Menschen und ohne Organisationsform arbeiten – wir waren ja nicht einmal ein eingetragener Verein, nur ein Team, das sich gut verstanden hat. Da stehe ich drauf, Menschen zusammenzubringen und Spaß dabei zu haben.
Sie haben damals 15.000 Unterschriften gesammelt. Das hat zwischen den Befürwortern und dem politischen Lager Gräben aufgerissen. Sind die Wunden inzwischen verheilt?
Das müssen Sie die Politiker fragen. Der Erste, der verstanden hat, was wir wollen, war Paul Wengert. Der hat sich irgendwann auch dazu bekannt. Schwieriger war es bei Eva Leipprand, die unsere Forderung aus irgendeinem Grund sehr persönlich genommen hat, ich weiß bis heute nicht, warum. Ich habe immer das Gespräch gesucht, aber nicht immer gefunden.
Vor Kurzem haben Sie den City-Preis der City Initiative Augsburg bekommen. Wie gehen Sie mit solchen Ehrungen um? Ist das auch eine Genugtuung für die vielen Arbeitsstunden, die nicht bezahlt werden?
Es berührt mich, das gebe ich gerne zu, und in gewisser Weise ist es auch eine Genugtuung. Man freut sich über die Wertschätzung seiner Arbeit. Das ist nicht selbstverständlich, es müsste ja auch niemand einen solchen Preis verleihen. Zudem noch an einen Vertreter aus der Literatur, einem Feld, das in dieser Stadt eher unterrepräsentiert ist, wie ich finde. Das ist gut.
Die Laudatio wurde von Herrn Seferi gehalten, einem Unternehmer, der erst vor einigen Jahren aus Albanien eingewandert ist. Seine Familie ist, wenn man das so sagen darf, ein entfernter Nachbar der Familie Ihres Vaters in Montenegro. Was fällt Ihnen dabei zum Thema Chancengleichheit ein?
Ich kann das schlecht beurteilen, aber ich meine schon, dass Herr Seferi eine Ausnahmeerscheinung ist. Es ist vielleicht ein Zeichen für eine gelungene Integration, wie er das bei der Laudatio auch gesagt hat. Ich glaube, seine Familie hat an dem Erfolg sehr hart gearbeitet und bestimmt auch Glück gehabt. Das ist nicht jedem gegeben. Wir sind in einer Zeit geboren, in der fast jeder die Chance hat, etwas aus sich zu machen. Aber da gehört in der Tat wirklich auch Glück dazu!
Finden Sie überhaupt noch Zeit zum Lesen?
Das wird von zweierlei bestimmt: dem, was ich lesen muss, und dem, was ich lesen will. Wenn beides übereinstimmt, ist es prima, wenn nicht, brauche ich ein wenig mehr Zeit. Tatsächlich mache ich, offen gestanden, nicht viel anderes. Abgesehen von meiner Leidenschaft für den Fußball und ab und zu einen Stadionbesuch.