Politik & Gesellschaft

»Frauen sind keine Ware«

a3kultur-Redaktion

a3kultur traf sich mit Kerstin Neuhaus, Geschäftsführerin des Vereins Augsburger*innen gegen Menschenhandel, zum Interview.

Im vergangenen Jahr fand im August­ana-Haus die Ausstellung »gesichtslos« statt, die sich mit der Zwangsprostitution auseinandersetzte. Veranstalter war unter anderem der Verein Augsburger*innen gegen Menschenhandel. Anschließend entschied die a3kultur-Redaktion, dem Thema für mehr Aufmerksamkeit und Transparenz Platz einzuräumen.
 

a3kultur: Vorab ein Wort zu den nicht unwichtigen Diskussionen um die Begrifflichkeiten. Was unterscheidet Prostitution und Sexarbeit?

Kerstin Neuhaus: Allein an der Wahl der Begriffe erkennt man die politische Haltung zu dem Thema. Die Gesetzgebung spricht von Prostitution. Die Pro-Prostitutionsseite verwendet Begriffe wie Sexarbeiterin, Sexarbeit und Manager statt Zuhälter. Ziel ist die Normalisierung dieses Themas. Wir als Verein vertreten aber die Meinung, dass Prostitution kein Beruf ist, sondern Gewalt und Ausbeutung. Prostitution ist weder Sex noch Arbeit, denn zu Sex gehört Konsens, den wir bei der Prostitution nicht haben. Sie ist auch keine Arbeit, da sie auf einem Ausbeutungssystem beruht.

Gibt es auch eine freiwillige Prostitution und werdet ihr bei eurer Arbeit damit konfrontiert?

In der politischen Diskussion wird man damit ständig konfrontiert. Es mag sie geben. Ich kann keiner Frau absprechen, dass sie es freiwillig macht, aber in den allermeisten Fällen sieht es anders aus. Die meisten Frauen werden gezwungen oder müssen es aus einer wirtschaftlichen Notsituation heraus machen, und das nicht gerne. Frauen in der Prostitution erzählen mir oft, dass sie dadurch ihre Familien ernähren. Sobald sie genug Geld haben, wollen sie sofort aufhören. Wenn der letzte Ausweg aus einer finanziellen Misere die Prostitution ist, hat das nichts mit Freiwilligkeit zu tun, sondern mit fehlenden Wahlmöglichkeiten.
Die Medienlandschaft war in der Vergangenheit extrem davon geprägt, Prostitution zu verherrlichen. In den letzten Jahren wurde der Blick kritischer.
 

»Wir schätzen, dass circa 200.000 bis 400.000 Prostituierte in Deutschland arbeiten, offiziell angemeldet sind aber nur knapp 24.000.«
 

»Wenn die Frauen nicht anschaffen gehen wollen, warum suchen sie sich nicht was anderes, die wollen einfach das schnelle und viele Geld«. Was erwiderst du auf so eine Aussage?

Da muss man differenzieren. In den meisten Fällen werden die Frauen, vor allem diejenigen, die aus Ost­europa stammen, schon in sehr jungen Jahren zum Beispiel durch die sogenannte Loverboy-Me­thode angeworben. Das heißt: Ein Mann schafft es, dass sich die Frau in ihn verliebt, und verspricht ihr einen tollen Job, ein tolles Leben im Ausland. Letzt­lich gerät sie hier aber in die Prostitution, ohne zu wissen, was auf sie zukommt. Es gibt aber auch Frauen, die wissen, dass sie in der Prostitution arbeiten werden, jedoch ohne die Bedingungen zu kennen. Oft werden scheinbare Schulden für die Reise, Unterkunft, etc. aufgebaut, die die Frauen dann abarbeiten müssen. Diese »Schulden« sind aber derart hoch, dass die Frauen niemals aus der Schuldenspirale herauskommen werden. Vor allem deutsche Prostituierte kommen zum Teil aus extrem schwie­rigen Familienverhältnissen, sie fallen durch alle sozialen Netze und finden allein keinen anderen Ausweg. Es gibt auch Fälle von vorheriger sexueller Traumatisierung, also beispielsweise Missbrauch in der Kindheit, die die Prostitution begünstigen. Ein Ausstieg ist zudem extrem komplex.

Woran liegt es, dass es für die Frauen so schwierig ist, aus dieser Zwangslage herauszukommen?

Es hapert an der Sprache – viele sprechen kein Deutsch –, an den Verbindungen nach draußen, viele der Frauen waren nicht lange in der Schule und sind daher auch schwer in den Arbeitsmarkt zu integrieren. In Deutschland haben wir ein weiteres großes Problem mit der Krankenversicherung. Die meisten Prostituierten sind nicht krankenversichert. Wenn sie aussteigen und sich anmelden wollen, müssen sie die ganzen Jahre, in denen sie be­reits in Deutschland tätig waren, nachbezahlen und haben dann erst einmal ein Berg an Schulden. Ein wei­teres Problem ist es natürlich auch, überhaupt eine Wohnung für die Frauen zu finden. Oft hat man es auch mit einer Drogen- und Alkoholproblematik zu tun. All das macht einen Ausstieg zu einer riesigen Herausforderung.

Es herrscht wahnsinnig viel Unwissenheit über das Thema. Ist das auch dein Gefühl?

Ja, total, ich habe das ja auch selbst an mir gemerkt. Ich hatte keine Ahnung, bevor ich mich intensiv damit beschäftig habe. Zwanzig Jahre lang dachten wir bei Prostitution an den Film »Pretty Woman«. Deswegen gab es lange keinen Aufschrei, das Thema ging an der Gesellschaft vorbei.

 

»Wir wollen die Nachfrage strafbar machen.«

 

Welche Gesetze gelten in Deutschland?

Bis 2002 das Prostitutionsgesetz beschlossen wurde, war Prostitution in Deutschland noch sittenwidrig. Es gab also zum Beispiel keine Möglichkeit für Frauen, sich gegen eine Nichtzahlung ihrer Dienste gerichtlich zu wehren. Mit diesem Gesetz wollte man den Frauen mehr Rechte geben, die Prostitution wurde mehr als Beruf behandelt. Das Gesetz ist jedoch krachend gescheitert, das hat eine Evaluation gezeigt. Unter der legalen Gesetzgebung konnte sich der Menschenhandel wunderbar ausbreiten. Danach blühte vor allem der osteuropäische Markt, der den deutschen komplett geflutet hat. Die Konkurrenz wurde dadurch noch größer, Dumpingpreise hielten Einzug und Männer konnten alles verlangen, weil der Konkurrenzdruck so groß war.

Das Prostituiertenschutzgesetz von 2017 sollte die Situation verbessern, auf dem Papier sah es auch gut aus. Aber der Fehler war auch hier wieder, dass von ganz falschen Voraussetzungen ausgegangen wurde. Wir schätzen, dass circa 200.000 bis 400.000 Prostituierte in Deutschland arbeiten, offiziell angemeldet sind aber nur knapp 24.000. Wir haben also einen blühenden Prostitutionsmarkt, die Probleme hat man mit dem Gesetz nicht in den Griff bekommen. Es wird gerade ausgewertet, die Evaluation erscheint 2025. Schauen wir mal, was dabei herauskommt.

Deutschland hat den unrühmlichen Beinamen »Bordell Europas« – warum? Was machen die anderen Nachbarländer anders?

Wir haben in Europa einen bunten Flickenteppich an Gesetzen. Es gibt Länder, die Prostitution verbie­ten, auch bereits das Anbieten. Das ist problematisch, denn warum sollten die Frauen zur Polizei gehen und um Hilfe bitten, wenn sie sich selbst dadurch strafbar machen?

Daneben gibt es Länder, die das sogenannte Nordische Modell eingeführt haben. Das Modell fußt auf vier Säulen: Die Frauen werden komplett ent­kriminalisiert, die Zuhälter und Freier hingegen machen sich strafbar. Das Ziel ist die Senkung der Nachfrage und damit, den Markt des Menschenhandels unattraktiv zu machen. Säule drei und vier sind flächendeckende Ausstiegshilfen für die Frauen und eine umfassende Aufklärung der Gesellschaft.

Ist euer Verein generell gegen Prostitution oder wollt ihr sie nur unter bestimmten Bedingungen erlauben?

Wir fordern für Deutschland das Nordische Modell. Wir sehen die allermeisten Frauen in der Prostitution als Opfer von Gewalt, deshalb dürfen sie auf keinen Fall strafbar gemacht werden. Wir wollen die Nachfrage strafbar machen, denn Sex sollte auf Konsens beruhen und nicht mit Geld gekauft werden können. Prostitution wird es trotzdem geben, aber wir wollen die Nachfrage durch eine Gesetzesänderung eindämmen.

Gibt es auch männliche Prostituierte?

Die Zahlen zeigen, dass Frauen in der absoluten Überzahl sind. Aber es gibt männliche Prostituierte, vor allem in Großstädten wie Berlin ist das natürlich ein Thema. Es sind zumeist junge Männer, die sich damit ihre Drogenabhängigkeit finanzieren. Ein Problem ist leider auch, dass junge Geflüchtete verkauft werden. Aber auch dort sind die Käufer in der überwältigen Mehrheit männlich.

Bis heute hält sich der Mythos, Prostitution würde Vergewaltigungen verhindern. Was ist da dran?

Das Männerbild, das hinter dieser Aussage steckt, ist eindimensional und im 21. Jahrhundert auch überholt. Man wird damit den Männern auch nicht gerecht. Aber selbst wenn es so wäre – sollten wir dann einen gewissen Prozentsatz an Frauen »opfern«, weil Männer sich nicht beherrschen können, um den Rest der Frauen zu schützen?

Und wenn die meisten Frauen gegen ihren Willen in der Prostitution sind, was würde das denn anderes bedeuten als eine Vergewaltigung? Ist die Vergewaltigung legitim, weil der Mann bezahlt hat? Ich glaube vielmehr, dass Prostitution Vergewaltigungen fördert, weil Männern suggeriert wird, dass es in Ordnung ist, sich zu nehmen, was man will.

Du hast an einer Studie zu Freiern mitgearbeitet. Wer sind nun die Männer in Deutschland, die für Sex zahlen?

Bei der Entstehung der Studie haben wir aus Sicher­heitsgründen mit den Freiern immer einen Treff­punkt auf der Straße ausgemacht. Wir haben dort gewartet und geraten, wer jetzt unser Gesprächspartner sein könnte – und wir lagen immer falsch. Man sieht es den Männern nicht an. Die Männer kommen aus allen sozialen Schichten, aus allen Einkommens­schichten, sie sind jeglichen Alters. Über 50 Prozent der Männer leben in Partnerschaften. Es sind also nicht die einsamen Männer aus der Unterschicht, wie man klischeehaft oft denkt.

Die Studie zeigt, dass die Freier ein umfassendes Wissen über das System der Prostitution – Gewaltanwendungen und Zwang – haben. Konntet ihr herausfinden, wie sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren können? Warum bleiben sie trotz ihres Wissens Teil des Systems?

Durch die Studie wurde eines deutlich: Die Freier wissen Bescheid. Wer dreimal bei einer Prostituierten war, weiß von dem verbrecherischen System. Während der Interviews widersprachen sich die Männer oft selbst, meist kam erst am Schluss heraus, dass sie Gewalt beobachtet haben. Auch das Vergewaltigungsargument wird oft verwendet und wir haben dann nachgefragt, ob sie das als Alternative betrachten. Nein, tun sie nicht. Das widerspricht sich total. Freier haben allerdings eine unfassbar schlechte Meinung über andere Freier. Sich selbst sehen sie als nett und hilfsbereit, nur die anderen Männer sind die Bösen.

In eurer Studie berichtet ihr auch von Sexreisen in wirtschaftlich schwache afrikanische Länder wie Äthiopien, Tansania und Kenia oder auch nach Rumänien. Habt ihr bei der Arbeit eures Vereins auch einen Blick darauf oder konzentriert ihr euch vor allem auf Deutschland?

Wir konzentrieren uns politisch auf Deutschland, wir wollen hier die Gesetzgebung ändern. Aber die meisten Prostituierten hier kommen aus dem Ausland, also ist das Thema global. Viele Freier kommen auch aus dem Ausland für eine Sexreise nach Deutschland.

Du hast mit Prostituierten in Berlin gearbeitet. Wie kam der erste Kontakt zwischen dir und ihnen zustande?

Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen. Ich habe im Café Neustart auf der Kurfürstenstraße, dem bekanntesten Straßenstrich in Berlin, gearbei­tet. Die Frauen bekommen dort etwas zu essen und zu trinken, Kleidung und Hygieneartikel. Sie können dort auch eine Beratung in Anspruch nehmen oder einfach soziale Kontakte pflegen. Wenn eine Frau aussteigen will, gibt es auch eine Wohnung, die in Anspruch genommen werden kann. Ich habe die Frauen auch direkt auf der Straße angesprochen und ihnen meine Karte mit unserer Adresse gegeben. Mit Bordelleinsätzen versuchen wir an die Frauen heranzukommen, die nie die Möglichkeit haben, aus dem Bordell heraus­zukommen. Wir versuchen so, ihnen eine Hand zu reichen, einen Kontakt zu ihnen aufzubauen. Sie sollen wissen, es ist jemand da.

Ihr macht euch dadurch bei den Zuhältern bestimmt nicht beliebt?

Es ist unterschiedlich. In manche Bordelle kommen wir nie rein. An die Frauen, die da drin sind, kommen wir gar nicht heran. Andere lassen uns rein und lassen uns auch unsere Arbeit machen.

Welche Anliegen haben die Frauen?

Es kommt darauf an, wie frei die Frauen sprechen können. Deutschkurse oder auch die Wohnungssuche sind oft ein Thema. Ausstieg ist zunächst selten ein Thema, aber manchmal erfahren wir später, dass sich Frauen in einer aussichtslosen Situation wieder an die Fachberatung erinnert und sich dann dort gemeldet haben. Das ist natürlich genau das, auf was wir hoffen.

Was müsste der Staat tun?

Ein großes Problem ist die zu geringe und unsichere, weil zeitlich begrenzte, Finanzierung der Beratungsstellen. Ein Ausstieg aus der Prostitution ist komplex, der dauert Jahre, Ausstiegsprojekte umzusetzen braucht daher auch Zeit. Eine gesicherte Finanzierung ist daher zwingend notwendig, damit die Beratungsstellen richtig arbeiten können.

Was kann jede*r Einzelne tun?

Sich informieren, sich mit der Thematik auseinan­dersetzen, Dokus angucken, Bücher lesen und darüber sprechen. Wichtig ist, nicht einfach darüber hinwegzugehen. Das Thema betrifft die gesamte Gesellschaft. Wir sollten uns schon mal fragen, ob wir das Frauenbild, das mit der Prostitution einhergeht, so haben und fördern wollen. Die Prostitutionsgesetzgebung ist eine Bundesangelegenheit, daher appellieren wir an alle, ihren Bundesabgeordneten zu schreiben und sie auf die Thematik aufmerksam zu machen. Natürlich kann man auch Vereine unterstützen oder sich in der eigenen Stadt engagieren und an die Stadtregierung herantreten.

Nehmen wir an, die Stadt Augsburg gibt dir die Möglichkeit, ein riesiges Plakat auf dem Rathausplatz zu installieren. Was schreibst du drauf?

»Frauen sind keine Ware«. Das bringt es auf den Punkt.

 

Kerstin Neuhaus ist Sozialarbeiterin und Geschäftsführerin des Vereins Augsburger*innen gegen Menschenhandel. Sie hat Erfahrung in der aufsuchenden Sozialarbeit im Prostitutionsmilieu und hält Vorträge zur Rolle der sozialen Arbeit im Bereich der Prostitution. Sie ist Mitautorin der im November 2022 erschienenen Studie »Männer in Deutschland, die für Sex zahlen – und was sie uns über das Scheitern der legalen Prostitution beibringen«.

 

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