Die geniale Schwester
Mehr als hörenswert, weil überraschend tiefgründig, emotional und expressiv zugleich, ist der Klavierzyklus »Das Jahr« von Fanny Hensel (1805–1847).
Die junge Pianistin Sophia Weidemann interpretiert die 12 Stücke jetzt in der intimen Atmosphäre des Studios im Sensemble Theater – und das bestechend virtuos! Tinka Kleffner spricht der Komponistin mit Passagen aus Tagebuch und Briefen aus der Seele und rundet so die musikalisch-literarische Zeitreise durch die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und durch Italien ab.
Taucht das Werk einer Komponistin auf den Klassik-Spielplänen auf, gilt das selbst im Jahr 2024 noch als Besonderheit. Vor 200 Jahren wäre dies einem Weltwunder gleichgekommen, denn die Veröffentlichung musikalischer Schöpfungen von Frauen bremste ein Verlagsverbot aus. Die Alternative in dieser Not waren die beliebten Hausmusik-Veranstaltungen, die auch Fanny Hensel ausgiebig zu kultivieren wusste. In diesem Rahmen konnte sie ihre Werke und ihr umfassendes Potenzial als geniale Schwester des nicht minder großartigen Felix Mendelssohn Bartholdy ins Licht stellen.
Erst seit den 1980er Jahren widmet sich die Forschung intensiver dem Leben und Werk (rund 460 Werke sind bekannt!) von Fanny Hensel, die im Alter von 42 Jahren völlig überraschend an einem Schlaganfall starb. Ihr berühmter Bruder überlebte Fanny, die 1829 den Hofmaler Wilhelm Hensel geheiratet hatte, um gerade einmal ein halbes Jahr. Felix und Fanny, die beide sehr früh Klavier und Harmonielehre lernten, standen sich zeitlebens sehr nah, schienen fast symbiotisch verbunden. So erstaunte der Satz in einem ihrer Briefe kaum: »Für mich gibt es nur zwei Gattungen von Menschen – Du und dann die anderen.« Auch aus weiteren Briefstellen spricht viel Geistreiches ebenso wie eine realistische Weltsicht, mit der Fanny sich gegen herrschende patriarchalische Denkmuster zur Wehr setzte, sie zumindest ironisch kommentierte. Nicht zuletzt der eigene Vater weist ihr Künstlerinnentum in die Schranken, will ihr das Hausfrauen-Dasein schmackhaft machen und die »wahre Sparsamkeit als wahre Liberalität« verkaufen, sie davon überzeugen, dass für sie Musik einzig »Zier« bleiben soll und nicht Beruf.
Noch stärker als die Tagebuch- und Briefzeilen spricht die Musik an diesem Abend für den Kosmos, in dem sich Fanny Hensel bewegte, für den Erfindungsreichtum und die kompositorische Raffinesse. Deutlich wird der emotionale Strudel, in den nicht erst die inspirierende Italienreise, die sie 1839 machte, Fanny hineinsog. In dem Zyklus klingen die Erinnerungen daran und die Glücksgefühle nach. Und doch ist es ein Auf und Ab, sind Höhen und Tiefen in den hochkomplexen Notenpartien zu hören, in die Fanny Hensel womöglich ihren Traum von einem gleichberechtigten Leben und Schaffen einmeißelte.
Sensationell, wie Sophia Weidemann, die in Stuttgart, Wien und Riga ihr Bachelor- und Masterstudium mit Bestnote abschloss, der kontrastreichen Atmosphäre der einzelnen Stücke nachspürt. Nuanciert arbeitet sie Licht und Schatten, Moll und Dur heraus, dynamisch und lebhaft, kraftvoll und dann wieder voller Zartheit meistert sie souverän und hochkonzentriert die technisch durchaus sehr anspruchsvollen Stücke, die sie auswendig spielt und die auch Fanny wohl »wie ein Mann« (damals das höchste Kompliment für eine Pianistin) zu spielen wusste. Einhelliger und langer Beifall!
2024 erschien bei Genuin Classics die CD »Das Jahr«, sodass dieses Musikprojekt mit Sophia Weidemann und Tinka Kleffner auch bestens nach- oder vorzuhören ist. Dennoch sei das Live-Erlebnis im Sensemble Theater wärmstens empfohlen. Und wer das alles »lustiger« als mit z. B. Wikipedia kontextualisieren will, dem sei auch der Podcast »Klassik für Klugscheißer #91« ans Herz gelegt!
www.sensemble.de
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