Theater & Bühne

Im Kreislauf der Gewalt

a3kultur-Redaktion

Das Staatstheater zeigt im Martini-Park »Drei Schwestern in Moskau« und bringt damit den Theaterklassiker von Anton Tschechow, einen aktuellen Kriminalfall und den Überfall Russlands auf die Ukraine auf die Bühne. Der Abend will viel und kann viel.

Andreas Merz Raykov kehrte nach seiner gefeierten Inszenierung von »Der Drache« wieder nach Augsburg zurück. Zunächst stand Anton Tschechows Stück »Drei Schwestern« auf seiner Agenda, dann kreuzte aber ein »Zeit«-Artikel seinen Weg und die Weltgeschehnisse überschlugen sich. Nicht länger konnte es ihm nur um die Strukturen von Gewalt und Macht in einer russischen Familie um 1900 gehen. Er spinnt einen Faden in die Gegenwart und verknüpft das Schauspiel von Tschechow mit dem Fall der drei Schwestern Chatschaturjan im heutigen Russland, die ihren Vater töteten, und dem brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine. Aber von vorne.

Vor den Zuschauer*innen bauen sich zwei weiße Wände auf, die spitz zusammenlaufen und mit unzähligen Türen und Fenstern bestückt sind. In der Spitze des Dreiecks ist ein schwarzer, dunkler Plexiglaswürfel zu entdecken, der wie ein Fremdkörper wirkt, in der rein weißen Umgebung. Die Szenen von Tschechow beginnen zunächst sehr witzig, slapstickartig taumeln die Protagonist*innen in den Raum, unterbrechen sich einander im Spiel, stolpern übereinander. Das Publikum lacht herzhaft über die Tollpatschigkeit und die witzigen Pointen.

Das Stück erzählt die Geschichte von Mascha, Olga und Irina, die im Tod des Vaters endlich die Möglichkeit sehen, der Provinz den Rücken zukehren und endlich wieder in Moskau leben zu können. Doch der Bruder ist nun Familienoberhaupt und trifft einige falsche Entscheidungen. Er heiratet die aus der Provinz stammende Natascha, die letztlich das entstandene Machtvakuum füllt. Wieder werden die drei Schwestern scheinbar rechtelos.

War es Mord oder der verzweifelte Versuch, am Leben zu bleiben?

Jeder Akt von Tschechow wird unterbrochen durch die Chatschaturjan-Geschichte. Dafür kommt der dunkle Kubus zum Einsatz, der sich langsam nach vorne schiebt. Es wird plötzlich dunkler, auf den weißen Wänden sind Ausschnitte einer medialen Hetzjagd zu sehen. Unverpixelt werden die drei zum Teil noch minderjährigen Schwestern bei ihrer Festnahme im Fernsehen gezeigt. Bilder des Tatortes werden präsentiert. Der Kubus wird nach vorne gedreht, die Schwestern berichten nun selbst, zunächst hinter Masken versteckt, von ihrem Martyrium. Die Stimmung kippt vom heiteren Schauspiel ins Dunkle und taucht ein, in eine frauenfeindliche, frauenverachtende Gesellschaft. Die Verwebung der beiden Geschichten beginnt und das Schicksal der Frauen wird im Laufe des Abends immer wieder im Spiel aufgegriffen.

Angelina, Krestina und Maria töteten ihren Vater im Schlaf mit seinen eigenen Waffen, nachdem er sie über Jahre missbraucht, gedemütigt und drangsaliert hatte. Der Vater, verwickelt in dubiose Geschäfte, aber eng vernetzt mit den lokalen Behörden und Gerichten, fühlte sich allen überlegen, vor allem seiner Familie. Eines Abends, nachdem er die Töchter abermals beschimpfte und Pfefferspray in ihr Gesicht sprühte, beschließen die Frauen, es ist genug. Die Schwestern reißen die Macht wieder an sich und erstechen den Vater im Schlaf. Der Versuch sich aus den patriarchalischen Strukturen zu befreien, scheitert aber und sie bleiben trotz des Todes des Vaters darin gefangen. Denn sie haben ein gesellschaftliches Tabu gebrochen. Gewalt an Frauen ist nichts Ungewöhnliches in Russland, es gibt nicht einmal ein Gesetz, das sie vor häuslicher Gewalt schützen könnte. Die Zahl der Femizide ist hoch: Jede Stunde stirbt eine Frau in Russland an den Folgen häuslicher Gewalt. Die Polizei rückt nicht aus, wenn sie dazu gerufen wird. »Schlägt er dich, so liebt er dich« lautet ein gängiges Sprichwort.

Gewalt von Frauen erschüttert hingegen die Gesellschaft. Die Medien stürzten sich auf die Frauen und veranstalteten eine unfassbare Show aus ihrem Schicksal. Die Staatsanwaltschaft möchte die Schwestern wegen Mordes verurteilen. Bis heute warten die Frauen auf ihren Prozess, bis dahin steht ihr Leben auf Pause.

Stimmen aus der Ukraine

Ein weiteres Mal wird die Tschechows Geschichte unterbrochen und um einen weiteren Handlungsstrang erweitert. Yuliia Yermakova, Schauspielerin aus der Ukraine, tritt mit ihrer künstlerischen Intervention »Voices of Ukraine – Stimmen eines Landes, das nicht erobert wurde« auf die Bühne. Sie rezipiert Zeuginnen-Aussagen aus der Ukraine, von einer Vergewaltigung einer Mutter und Ehefrau durch Soldaten, von Gewalt und Angst im Krieg. Yermakova gibt ihren Landsleuten eine Stimme und verschafft den Opfern des Krieges Gehör.

In Raykovs Inszenierung geht es um Selbstbestimmung – die der Frauen im Zarenreich um die Jahrhundertwende, der Frauen heute und souveräner Staaten. Sie zeigt, dass Gewalt und Machtmissbrauch im Kleinen genauso existiert wie im Großen. Bei beiden sind die Folgen verheerend. Schwarz und Weiß sind die dominierenden Farben des Abends, Schattierungen existieren nicht, genauso wenig wie bei der Gewalt. Nur gegen Ende des Stücks taucht die rot-pinke Farbe auf – es ist das Theaterblut, das von den drei Frauen auf der Bühne verschmiert wird. Ist es eine Warnung?

Das vorletzte Wort des Abends gehört wieder Yermakova. Sie nutzt es, um zu betonen, dass sie niemals vergessen werden. Kein vergossenes Blut, keine Tat und auch kein Opfer werden jemals vergessen. Es klingt wie ein Versprechen und eine Warnung zugleich. Das rührt zu Tränen, auf der Bühne und davor. Nach fast dreieinhalb Stunden ertönt großer Applaus für die tolle Ensembleleistung und die Arbeit des Regieteams. Ein intensiver, berührender und wertvoller Abend, den man nicht verpassen sollte.

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