Radikalenerlass
50 Jahre Berufsverbote – Wird es politische Signale geben? Ein Gastbeitrag von Michael Friedrichs
Der »Ministerpräsidentenbeschluss« unter Kanzler Willy Brandt wird am 28. Januar 50 Jahre alt: Berufsverbote, Radikalenerlass. In der abgebildeten Augsburger Broschüre von 1977 wurden 18 Fälle geschildert. Einige der Betroffenen leben weiterhin in Augsburg, andere mit ähnlicher Geschichte sind zugezogen (dazu gehöre auch ich). Heute fänden auch Jüngere es an der Zeit, dieses Thema aufzuarbeiten. So hat Prof. Dietmar Süß (Neuere und Neueste Geschichte, Uni Augsburg) am 24. November einen Kolloquiumsvortrag von Dr. Alexandra Jaeger (Hamburg) über Zoom zugänglich gemacht, in dem der geschichtliche Ablauf in Hamburg dargestellt wurde, basierend auf ihrem Buch »Auf der Suche nach ›Verfassungsfeinden‹ – der Radikalenbeschluss in Hamburg 1971–1987« (2019, in der Unibibliothek vorhanden). Eine entsprechende Untersuchung für Bayern fehlt. Frau Dr. Jaeger erwähnte auch, dass die damals gesammelten Verfassungsschutzakten in Hamburg beim Staatsarchiv liegen. Auf eine entsprechende Anfrage beim Staatsarchiv Augsburg wurde mir mitgeteilt, dass hier Verfassungsschutz-Unterlagen nur im Bestand »Regierung von Schwaben« zu finden sind.
Die verbreitete Lesart ist: Wer damals in einer sich kommunis-tisch nennenden Partei Mitglied war, also der DKP oder einer der K-Gruppen, durfte nicht verbeamtet werden bzw. im Öffentlichen Dienst arbeiten. Dafür wurden sämtliche Bewerber*innen vom Verfassungsschutz überprüft, und auch vielen, die vielleicht nur zum Studierendenparlament kandidiert hatten oder in einer Initiative gegen Berufsverbote mitarbeiteten, wurde die Anstellung verweigert mit dem Argument, da seien Kommunisten dabei gewesen.
Das ist kein bloß historisches Problem: Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) wird im bayerischen Verfassungsschutzbericht als »links-extremistisch beeinflusste Organisation« aufgeführt. Derzeit klagen Vertreter der VVN, vertreten von Prof. Matthias Bäcker, vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das bayerische Verfassungsschutzgesetz.
Gewerkschaftliche Unterstützung der Betroffenen war enorm wichtig, aber nicht überall so selbstverständlich wie in Augsburg. In Baden-Württemberg wurde ich, nachdem ich im Anschluss an den Referendardienst nicht übernommen worden war, aus der dortigen GEW ausgeschlossen.
Fragen an Augsburger Abgeordnete
Den Augsburger Kandidatinnen für die Bundestagswahl 2021 von SPD, Grünen und Linken, also Ulrike Bahr, Claudia Roth und Susanne Ferschl, die alle auch wiedergewählt wurden, habe ich vor der Wahl ein paar Fragen zugeschickt. Ulrike Bahr und Susanne Ferschl haben engagiert geantwortet; für Claudia Roth hat ihr Büro mitgeteilt, dass sie der neuen Grünen-Fraktion nicht vorgreifen wolle. Hier Auszüge aus den Antworten:
1) Wie sehen Sie heute den »Radikalenerlass« und seine Wirkung auf demokratische Bestrebungen in der Bundesrepublik?
Bahr: Die Verantwortlichen, nämlich die Ministerpräsidenten und Landesminister im Einvernehmen mit der Bundesregierung, waren meiner Ansicht nach auf dem rechten Auge blind. Formell richtete sich der »Extremistenbeschluss« gegen Links- und Rechtsextremisten. Faktisch betroffen waren aber fast nur Menschen aus dem linken politischen Spektrum. Die damit verbundenen Berufsverbote hatten gravierende Langzeitfolgen für die Betroffenen. Die Regierung Brandt ist mit dem Slogan »Mehr Demokratie wagen« und mit der Ostpolitik immer noch ein zentraler Referenzpunkt für sozialdemokratisches Selbstverständnis. Mit dem Radikalenerlass haben Partei und sozialdemokratische Regierung aber auch ihre repressive Seite gezeigt und sind nach meiner Einschätzung weit über das Ziel hinausgeschossen. Willy Brandt selbst hat den Radikalenerlass später als kardinalen Fehler seiner Kanzlerschaft bezeichnet und sich dafür entschuldigt.
Ferschl: Bis heute haben es Menschen schwer, z.B. einen Job an der Universität anzutreten, wenn sie beispielsweise im Jugend- oder Studierendenverband unserer Partei aktiv sind oder waren. Damals wie heute zeigt sich, dass der Verfassungsschutz offensichtlich auf dem rechten Auge schlecht sieht, durch ein undurchschaubares V-Leute-System Neo-nazi-Strukturen eher finanziert statt bekämpft und auf der anderen Seite nach wie vor ein nicht zu vernachlässigender Antikommunismus vorherrscht.
2) Plant Ihre Partei, zu diesem Thema einen Be-schlussantrag in den Bundestag einzubringen?
Bahr: Die rot-rot-grüne Regierung und ihre Fraktionen im Abgeordnetenhaus in Berlin haben kürzlich eine Aufarbeitung beschlossen. Auch andere Länder mit sozialdemokratischer Regierung, z.B. Niedersachsen, Hamburg und Bremen, haben entsprechende Projekte gestartet. Vorbereitungen zu einem Bundestagsantrag sind mir nicht bekannt. Ich werde das aber gerne mit Fraktionskolleg*innen ausloten.
Ferschl: Konkrete Pläne für einen Antrag gibt es gerade nicht.
3) Plant Ihre Partei sonstige Aktivitäten zu diesem Thema?
Bahr: Ich denke, es ist an der Zeit, sich systematisch damit auseinanderzusetzen – kritisch und im geschichtlichen Kontext der 68er, der Demokratie- und Bürgerrechtsbewegung der frühen Bundesrepublik und auch der linksterroristischen Bedrohung, die in der Gründung der RAF kulminierte.
Ferschl: Die Partei Die Linke plant derzeit eine Veranstaltung im Januar dazu. Wir stehen unter anderem mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Kontakt und suchen dafür auch explizit Betroffene, die mitwirken möchten. Es wird (nicht nur) zum unrühmlichen Jahrestag auch Beiträge auf meinen Social-Media-Kanälen geben, um die Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
4) Halten Sie die biografischen Brüche im Leben der Betroffenen für eher selbst verschuldet?
Bahr: Nein, auf keinen Fall. Das Berufsverbot war ein brutaler Eingriff in die Biografie von Menschen, die eine politische Meinung hatten. Die Überprüfungen führten zu etwa 11.000 Berufsverbotsverfahren, sogar für Postboten oder Lokführer. Wer mit Kommunisten zusammengearbeitet hat, geriet in den Verdacht, Feind der Verfassung zu sein. Vielfach sind die Regelanfragen erst Mitte der 80er-Jahre wieder eingestellt worden, denn die Bundesländer praktizierten sie weiter, als der Bund den Radikalenerlass bereits außer Kraft gesetzt hatte.
Ferschl: Ein klares Nein. Wenn man sich im Verhör nicht von den eigenen politischen Forderungen distanzieren wollte – und das halte ich für völlig legitim –, wurde man schlicht aus der beruflichen Laufbahn gedrängt. Dass sich viele umorientieren mussten, hatte nicht selten negative finanzielle Einbußen zur Folge.
5) Wie stehen Sie zur Frage der Rehabilitation der Betroffenen?
Bahr: Eine Rehabilitation wäre angebracht. Niedersachsen hat so etwas bereits auf den Weg gebracht.
Ferschl: Wie viele Initiativen gegen Berufsverbote fordern wir eine Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen. Gerade die Kolleg*innen, die es mit Klagen nicht wieder zurück, z.B. in den Schuldienst, geschafft haben, sind heute von Altersarmut bedroht.
6) Wäre ein Vergleich mit der Stasi-Überwachung ganz abwegig?
Bahr: Der Verfassungsschutz hat sich für die Regelanfragen mit zigtausenden Dossiers präpariert und seine Befugnisse weit überschritten. Den Vergleich mit der Stasi-Überwachung halte ich nach momentanem Kenntnisstand dennoch für abwegig.
Ferschl: Im Bereich der politischen Gesinnungsschnüffelei gibt es sicher Gemeinsamkeiten, wie auch als Maßnahme der Einschüchterung. Auf eine Gleichsetzung würde ich dennoch verzichten.
7) Halten Sie es für richtig, dass Betroffene auf Antrag Einsicht in ihre Verfassungsschutzakte bekommen können?
Bahr: Nach Ablauf von Schutz- und Sperrfristen halte ich das für vertretbar und sinnvoll.
Ferschl: Ein klares Ja. Zudem müssen sich auch die Landesparlamente, sofern sie es noch nicht getan haben, öffentlich entschuldigen und an der weiteren Aufarbeitung mitwirken.
Aufarbeitung in Augsburg
Eine Veranstaltung in Augsburg zum Jubiläumstermin ist unter Corona-Bedingungen leider nicht möglich, auch wollen sich nicht alle damals Betroffenen noch einmal damit ausei-nandersetzen. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung wäre wichtig, unter anderem um zu erfahren, wie sie mit dem Bruch in ihrem Berufsleben umgegangen sind.
Neue Debatte im Bundestag?
Ob der neue Bundestag aus Anlass des Jubiläums eine Debatte führen wird, ist noch nicht bekannt. Vor zehn Jahren stellte die Partei Die Linke den Antrag »Nach 40 Jahren – Berufsverbote aufheben und Opfer rehabilitieren« (Bundestags-Drucksache 17/8376). Er wurde in der Sitzung am 9. Februar 2012 abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen (d.h. CDU/CSU und FDP) bei Enthaltung der SPD-Fraktion und Zustimmung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen (Plenarprotokoll 17/158). Ob SPD und FDP heute anders argumentieren?
Der Autor ist Vorsitzender des Brechtkreises und Redakteur der Vierteljahreszeitschrift »Dreigroschenheft«.
Er war lange im Wißner-Verlag tätig, jetzt freiberuflich.