Radio Asyl

Gastautor

Sie fliehen vor einem Bürgerkrieg, sozialer und religiöser Verfolgung oder bitterer Armut. Um ihr Leben oder das ihrer Familie und Freunde zu retten, müssen Flüchtlinge häufig alles zurücklassen – unter Umständen sogar ihre eigene Identität. Sie treten dabei eine Reise in eine ungewisse Zukunft an, bei der es häufig keinen Weg zurück gibt. Auf der Suche nach Asyl kommen Menschen aus allen Teilen der Welt auch nach Augsburg. Hier angekommen werden sie in anonymen Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Ihr Leben ist geprägt von Fremdbestimmung und staatlicher Bevormundung, doch bringt jeder Einzelne seine ganz eigene Geschichte mit. Sie erzählt von Vertreibung, Flucht, Geduldsproben und einer unsicheren Zukunft, aber auch von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Die nachfolgenden Porträts möchten zumindest einigen der in unserer Stadt lebenden Flüchtlingen wieder eine Stimme geben.

Interviews und Texte: Patrick Bellgardt. Grafik: Andreas Holzmann und Aaron Strahlberger. Idee und Konzept: Jürgen Kannler. Ein Projekt von a3kultur.
 
Reise ins Ungewisse

Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Deutsch land im vergangenen September kann Firas (Name von der Redaktion geändert) wieder etwas optimistischer in die Zukunft blicken. Sein Asylantrag wurde vor Kurzem angenommen. In den nächsten Wochen bekommt er die langersehnten Aufenthaltspapiere. Zuerst einmal für drei Jahre darf der 50-jährige Syrer dann in Deutschland bleiben. Noch lebt er in einer der Augsburger Gemeinschaftsunterkünfte für Asylbewerber. Das soll sich jedoch so schnell wie möglich ändern. Seine Freunde helfen ihm dabei, eine eigene Bleibe zu finden. Eine Wohnung hat er sich schon angeschaut: 80 Quadratmeter, vier Zimmer in Oberhausen. Ein Zimmer soll für seine Tochter sein, eines für die beiden Söhne, ein Schlafzimmer für Firas und seine Frau sowie Wohnzimmer, Küche und Bad. Möglichst bald möchte er seine Familie wieder in die Arme schließen und nicht mehr nur über das Telefon ihre Stimmen hören. Seit fast einem Jahr leben sie voneinander getrennt. Über 3.000 Kilometer liegen zwischen der syrischen Hauptstadt Damaskus und dem bayerisch-schwäbischen Augsburg.

Im September 2012 tobt der syrische Bürgerkrieg bereits seit über einem Jahr. Firas’ Heimatstadt Homs, die drittgrößte Stadt des Landes, liegt nahezu komplett in Trümmern. Bis heute liefern sich dort Rebellengruppen blutige Auseinandersetzungen mit Regierungstruppen und regimetreuen Milizen. Alles ist zerstört. Wohnung, Auto, Arztpraxis – Firas verliert seine Existenz. Der Beginn des Krieges verändert sein Denken grundlegend. Als entschiedener Gegner jeder Gewalt, Vater und Arzt kann er diese Verrohung nicht länger akzeptieren. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass ein solches Blutvergießen in Syrien möglich ist. Firas will mit seiner Frau und seinen Kindern in Frieden leben. Zunächst flieht er mit seiner Familie von Homs nach Damaskus. Zwar ist die Lage auch dort alles andere als sicher, doch bietet die Hauptstadt einen verhältnismäßig guten Schutz.

Von einem Bekannten erfährt Firas von Schleppern, die Menschen gegen Bezahlung über die türkische Grenze in die EU bringen können. Der ausgerufene Preis pro Kopf: 10.000 Dollar. Angesichts der aussichtslosen Lage bleibt den Flüchtlingen nichts anderes übrig, als zu bezahlen und den Schleusern ihr Schicksal zu überlassen. Um das Geld zusammenzukratzen, verkauft Firas sein Grundstück in Homs und den Schmuck seiner Frau und löst alle übrigen Ersparnisse auf. Seine vergleichsweise privilegierte Position nach 27 Jahren Arbeit als Arzt macht die Finanzierung möglich. Häufig begeben sich Flüchtlinge in ein gefährliches Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Schleppern. Einige verschulden sich, anderen fehlen die nötigen Mittel zur Flucht komplett.

Am 5. September beginnt die Reise ins Ungewisse. Von Damaskus aus geht es in einem Auto in Richtung der türkisch-syrischen Grenzregion. Noch nie zuvor ist Firas dort gewesen. Die Fahrt ist schrecklich. Überall stehen bewaffnete Regierungstruppen und Rebellen. In der Türkei angekommen bringen die Schlepper die Familie in einer Wohnung unter, geben ihnen Essen und Trinken. Wo genau sie sich befinden, wissen sie nicht. Nach zwei schlaflosen Nächten geht es plötzlich ganz schnell: Firas soll sich von seiner Familie trennen. Sobald sie in Deutschland angekommen sind, würden sie sich ja wiedersehen – so hatte er sich das nicht vorgestellt.

Während er in den Laderaum eines Transporters gesetzt wird, sollen seine Angehörigen später in einem anderen Auto in die EU gebracht werden. An Bord des Wagens befinden sich zwei weitere Männer. Ihre Gesichter sind in dem völlig abgedunkelten Raum nicht zu erkennen. Anders als Firas sprechen sie kein Arabisch. Vielleicht Kurdisch, sicher ist er sich aber nicht. Aus Angst vor der Polizei stoppt der Flüchtlingstransport nur in abgelegenen Gebieten. Das Gefühl für Raum und Zeit geht Firas dabei komplett verloren. Er ist ohne Orientierung weiß während der Fahrt nicht, in welchem Land er sich gerade befindet. Auf dem schnellsten Weg hätten die Schlepper von der Türkei via Istanbul und Autoput durch Osteuropa nach Deutschland sechs Grenzen überqueren müssen. Ohne ein gut organisiertes und länderübergreifendes Schleusernetzwerk wäre diese Unternehmung wohl kaum möglich gewesen. Nach schätzungsweise fünf bis sieben Tagen kommt Firas in München an. Acht Wochen verbringt er in einer Asylbewerberunterkunft in der bayerischen Landeshauptstadt, dann wird er nach Augsburg verlegt. Seine Familie hat die Türkei nie verlassen. Nach zwei Monaten kehrt sie verzweifelt nach Damaskus zurück.

Mithilfe eines Anwalts möchte Firas seine Familie nun zu sich holen. Hierzu hat er bereits Kontakt mit der deutschen Botschaft in Beirut aufgenommen. Dass Augsburg ein geeigneter Ort ist, um ein neues Leben zu beginnen, steht für ihn außer Frage. Die Stadt gefällt ihm sehr und nicht zuletzt schätzt er die Möglichkeit, seinen Glauben hier weiter pflegen zu können. Als Christ findet er sich häufig in der syrisch-orthodoxen Marienkirche zum Gebet ein. Natürlich würde der Facharzt für innere Medizin auch gerne wieder seinem Beruf nachgehen. Hierfür braucht Firas eine Berufserlaubnis, zunächst jedoch muss er ein gewisses Niveau in der deutschen Sprache erreichen. Für den Syrer und seine Familie war gute Bildung schon immer sehr wichtig. Seine Tochter soll hier nach Möglichkeit weiter auf die Universität gehen. Auch die beiden Söhne sollen die Schulein Deutschland beenden und später studieren können. Keine Frage: Dem sympathischen und höflichen Mann möchte man diese Wünsche am liebsten gleich erfüllen.

Im Visier der Taliban

Solange ihn seine Füße tragen, läuft Milad (Name von der Redaktion geändert) – zehn bis zwölf Stunden täglich. Hin und wieder nimmt ihn ein Auto oder Lkw für ein Stück mit. Das Ziel des jungen Afghanen: Europa – möglichst weit weg von den Taliban, die knapp zwölf Jahre nach Beginn des Afghanistankriegs noch immer Teile seines Heimatlandes terrorisieren.

Milad hat Pharmazie studiert und möchte seinen Lebensunterhalt eigentlich als Apotheker verdienen. Da sich die Jobsuche in Afghanistan in diesem Bereich äußerst schwierig gestaltet, muss er sich umorientieren. Er nimmt eine Stelle als Büroleiter in Charikar, der Hauptstadt der Provinz Parwan, im Osten des Landes an. Milads Firma beschäftigt eine Vielzahl ausländischer Arbeitnehmer, auch aus europäischen Staaten.

Der sechsstöckige Bürokomplex wird daher verstärkt von afghanischen Sicherheitskräften bewacht. Als im Juni 2012 wie so häufig das Telefon klingelt, ahnt Milad noch nicht, dass dieser Anruf sein Leben verändern wird. Am anderen Ende der Leitung: einer der selbst ernannten Gotteskrieger der Taliban. Die klare Forderung ist zugleich eine Drohung: »Sorge dafür, dass die Polizei aus dem Haus verschwindet! Wir wollen da rein!«

Hohe Gebäude wie dieses rückten in der Vergangenheit zunehmend ins Blickfeld der Taliban. In den Augen der Islamisten sind sie vor allem im Guerillakampf strategisch wertvoll. Auf den ersten Anruf folgen weitere. Der Ton wird rauer. Milad wendet sich verzweifelt an die Regierung, schreibt einen Brief, in dem er seine Lage schildert, bittet um Hilfe. Nichts passiert. Es heißt lediglich, er solle abwarten.

Der Afghane weiß nicht mehr weiter. In Absprache mit seiner Frau und seinem Vater entschließt er sich, das Land zu verlassen. Angesichts der Drohungen gegen seine Person und der Untätigkeit der Regierung hat Milad keine andere Wahl mehr. Nun muss alles ganz schnell gehen – von heute auf morgen macht er sich auf, um sein Leben zu retten.

Insgesamt drei Monate ist er zu Fuß oder als Anhalter unterwegs. Via Pakistan und den Iran kommt er in die Türkei. Von dort gelangt er auf dem Landweg nach Griechenland. Mit der Fähre geht es weiter nach Italien. Milad durchquert Österreich und erreicht imAugust 2012 Deutschland. Nicht nur körperlich macht ihm der Weg zu schaffen, auch die ständige Ungewissheit zerrt an seinen Nerven. Auf seiner anstrengenden Reise lernt der Afghane andere Flüchtlinge kennen, die ihn ein Stück begleiten. Viele davon sind Landsleute, andere kommen aus Pakistan, Syrien oder dem Irak. Sie fliehen aus ihren Heimatländern vor Krieg, politischer Verfolgung, Diskriminierung, ökonomischen oder sozialen Problemen. Gleichzeitig trifft Milad Menschen, die den Flüchtlingen durch ihre Kontakte dabei helfen, unbemerkt über die Grenzen zu kommen. Nicht immer handelt es sich um Schlepper, die eine Gegenleistung verlangen. Diese Hilfsbereitschaft macht ihm Mut. Tatsächlich wird er erst in Deutschland von der Polizei aufgegriffen. Als er in Handschellen abgeführt wird, ist es ein Schock für den jungen Mann, der noch nie zuvor direkt mit den Sicherheitsbehörden konfrontiert war. Erst jetzt realisiert er, in welchem Land er sich genau befindet.

Heute kann Milad über seine Verhaftung lachen. Dieser erste Eindruck von Deutschland hat sich für ihn nicht bestätigt. Er ist froh, dass er seinen Asylantrag hier stellen konnte. Nach drei Monaten in München wohnt der Afghane seit November in der Asylbewerberunterkunft in Bobingen. Nichtsdestotrotz ist aktuell noch nicht geklärt, ob er endgültig hierbleiben kann. Zumindest für die nächsten drei Monate hat er eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Nach Ablauf dieser Frist wird neu entschieden. Für die Zukunft wünscht sich Milad vor allem, dass seine Familie in Frieden leben kann. Nach seiner Flucht aus Afghanistan musste auch sie aus Angst vor der Rache der Taliban das Land verlassen. Im Moment weiß er nicht genau, wo sie sich gerade aufhält. Nur sehr selten kann er mit ihnen telefonieren. Einmal sagt sein Vater, sie seien in Pakistan, das nächste Mal im Iran oder in der Türkei. Das Beste wäre natürlich, wenn sie zu ihm nach Deutschland kommen könnten.
Wie geht es für Milad weiter? Deutsch zu lernen ist für ihn sehr wichtig. Zunächst probierte er es auf eigene Faust, jedoch bereitete ihm insbesondere die Aussprache Probleme. Seit zwei Monaten besucht er nun regelmäßig die Kurse von Tür an Tür. Gerne würde er in Deutschland ein Studium beginnen – vielleicht Materialwissenschaften an der Uni Augsburg. Für ihn wäre es neben der beruflichen Perspektive vor allem eine Möglichkeit, Freunde zu finden und endlich am sozialen Leben teilhaben zu können. Ein guter Bürger will Milad sein, einen Beitrag zur Gesellschaft leisten und irgendwann einmal die gleichen Rechte haben wie jeder andere auch.

Leben in der Warteschleife

Es war nie Cédrics (Name von der Redaktion geändert) großer Traum, in Europa zu leben, vielmehr hat ihn die Situation in seiner Heimat zur Flucht gezwungen. Ins Detail möchte er nicht gehen: ökonomische Schwierigkeiten, soziale Probleme, persönliche Gründe. Über die Vergangenheit in seinem Heimatland zu sprechen fällt ihm sichtlich schwer.

Der 33-jährige Ingenieur für Telekommunikation stammt aus Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo. Drei Jahre hat er dort studiert. Mit mehr als zehn Millionen Einwohnern ist die Metropole eine der am schnellsten wachsenden Städte des Kontinents. Noble Geschäfts- und Wohnviertel grenzen an Elendsquartiere. In dem von jahrelangen Bürgerkriegen gebeutelten Land lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung von weniger als 1,25 Dollar pro Tag. Den wenigen Superreichen steht eine extrem verarmte Masse gegenüber. Während die Politik sich an einer gerechten Verteilung der Ressourcen des Landes wenig interessiert zeigt, blühen Kriminalität und Korruption. Laut den Vereinten Nationen ist Kongo heute eines der ärmsten Länder der Welt.

Cédric weiß nicht, wie lange er in dieser Umgebung noch überleben kann. Vor knapp zwei Jahren fasst er den Entschluss, die Perspektivlosigkeit hinter sich zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. Um ausreisen zu können, wechselt er seine Identität. Mit dem Pass eines anderen nimmt er ein Flugzeug in die Türkei. Von dort aus geht es mit einer Maschine weiter nach Griechenland, darauf hin nach Deutschland. Als Cédric hier ankommt, will er nur ein oder zwei Tage bleiben. Sein eigentliches Ziel: Frankreich. Nicht nur die französische Sprache spricht der Kongolese fließend, auch viele seiner Landsleute leben dort. Es läuft anders als geplant: Cédric darf nicht weiterreisen. Er stellt einen Asylantrag in Deutschland. Zunächst wird er für über ein Jahr in München untergebracht. Seit sieben Monaten lebt er in einer der Augsburger Asylbewerberunterkünfte. Das Zusammenleben auf engstem Raum mit den anderen Bewohnern ist nicht immer leicht. Jeder hat seine eigenen Probleme, seine eigenen Gründe, wieso er seine Heimat verlassen hat. Nachts liegt Cédric häufig wach – ständig über seine Situation nachdenken zu müssen, macht ihm zu schaffen. Wie so viele andere Flüchtlinge führt er ein Leben in der Warteschleife.

Nach endlosen Monaten kommt vor einigen Wochen dann die schockierende Nachricht: Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Cédric wird in Deutschland von nun an nur noch geduldet. Von der Ausländerbehörde bekommt er mitgeteilt, dass er sich selbst um einen gültigen Pass zu kümmern habe. Hierfür soll er mit dem Zug nach Berlin zur Botschaft seines Landes fahren. Die Reise wird ihm bezahlt. Ein zweifellos zynisches Vorgehen, den Flüchtling selbst seine Abschiebung vorbereiten zu lassen. Cédric hat sich in seinen zwei Jahren hierzulande nie etwas zuschulden kommen lassen, sich stets korrekt verhalten, und so befolgt er auch diesmal, was ihm von den zuständigen Ämtern aufgetragen wird. Sobald er seine neuen Papiere mit der Post erhält, ist eine Abschiebung theoretisch möglich. Dennoch besteht weiter Hoffnung: Rund 85.000 geduldete Flüchtlinge leben zurzeit in Deutschland, ein großer Teil davon schon viele Jahre.

Wieder kann Cédric nur warten. Um sich abzulenken, fährt der Christ regelmäßig mit dem Zug zur Messe einer französischsprachigen Gemeinde in der Region. Dabei spielt nicht nur sein Glaube eine Rolle: Im Kreis der Kirche hat er die Möglichkeit, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Im Kontakt mit Deutschen trifft er aufgrund seiner fehlenden Sprachkenntnisse häufig auf Ablehnung. Auch deshalb versucht der Kongolese seit einem Jahr so gut es geht die Sprache zu lernen. Nichtsdestotrotz gefällt ihm Augsburg, die deutsche Kultur und auch sonst könnte er sich sehr gut vorstellen, hier sein neues Leben zu beginnen.

Eines Tages wäre natürlich auch eine Rückkehr nach Kongo möglich, doch aktuell würde Cédric dort – so seine Befürchtung – nicht lange überleben können. Sein größter Wunsch: endlich wieder ein freier Mann sein, sich frei bewegen und arbeiten können. Einen Weg zurück gibt es für ihn im Moment jedenfalls nicht.