Sie wünschen, wir spielen

Augsburg – Stadt der Renaissance. Von den Römern gegründet. Fuggerstadt. Oder auch: versunkene Metropole der Textilindustrie, Mozartstadt, Brechtstadt. All diese Etiketten bedienen sich der Vergangenheit. Natürlich ist es gut und richtig, das historische Erbe nicht zu vergessen, sondern es einzubeziehen. Schließlich leben wir nicht in einer am Reißbrett konstruierten Stadt, sondern in einem sich seit mehr als 2000 Jahren permanent verändernden urbanen Raum. Diese Veränderungen unterlagen schon immer verschiedensten Einflüssen, teils gewollt und gesteuert, teils aber auch ohne Plan entstanden. Manches entwickelt sich eben, ohne dass es genau so gewünscht war.
Seit dem 19. Jahrhundert hat Augsburg mehrere gravierende Änderungen seiner städtischen Struktur erfahren. Durch das Niederlegen der Stadtmauern ab 1860 bekam die schon seit Ende des 18. Jahrhunderts wachsende Textilindustrie eine stärkere Rückbindung an die alte Stadt, innen und außen näherten sich an. In der Nachfolge entstanden Ringstraßen auf den Fundamenten der abgerissenen Mauern. Die Stadt konnte wachsen, neue Verkehrswege entstanden, wie die Bahnhofstraße und die Bürgermeister-Fischer-Straße. Rund um die ehemaligen Grenzen entwickelten sich neue Quartiere: Bahnhofsviertel, Bismarckviertel, Beethovenviertel, Thelottviertel.
Die während des Nationalsozialismus geplanten enormen Eingriffe für ein Gauforum wurden erfreulicherweise nur zum Teil realisiert. Doch an der Fuggerstraße wurden die Vorgärten beseitigt, um die Straße aufmarschgeeignet zu machen, das Stadttheater wurde breitschultriger, aus drei Loggienbögen wurden fünf. Die zweifelhafte, doch fleißig frequentierte Schleifenstraße geht ebenfalls auf Planungen aus den 1930-Jahren zurück-
Der Rathausplatz, ein Areal ohne wirkliche Aufenthaltsqualität, doch ein schnell als unverzichtbar eingestufter Ganzjahres-Festplatz im Zentrum der Stadt
Die Bombenschäden des Zweiten Weltkriegs zerstörten zwar viel Gebäudesubstanz, doch wie in anderen Städten auch sind die heute erkennbaren Strukturen bewusste Entscheidungen im Hinblick auf eine autogerechte Stadt gewesen. Auch viele innerstädtische Bauten der 1950er- Jahre wurden nicht errichtet, weil die Vorgängerbauten völlig kaputt gewesen wären, sondern weil man die Gelegenheit zum Neubau nutzen wollte. Eine Leerstelle haben wir diesem Muster zu verdanken: den Rathausplatz. Das durch Kriegsschäden stark beschädigte, aber keineswegs unbrauchbare Börsengebäude wurde abgerissen, um an gleicher Stelle »was Modernes« zu bauen. Doch die Bürger waren so begeistert von dem nun unverstellten Blick auf das Rathaus und die neu gewonnene Freifläche, dass die Pläne gekippt wurden. Ergebnis: ein Areal ohne wirkliche Aufenthaltsqualität, doch ein schnell als unverzichtbar eingestufter Ganzjahres-Festplatz im Zentrum der Stadt.
Um die Jahrtausendwende zogen die amerikanischen Truppen ab. Die Konversion von 200 Hektar hinterlassener ehemals militärisch genutzter Fläche ist beinahe durch. Nur der Kulturpark West trotzt noch ein wenig seiner Einebnung. Die sonst so schnell einknickende Stadtregierung bleibt in diesem Fall jedoch hartleibig, sie (vor allem die Stadtwerke) favorisiert eine Umsiedlung ins alte Gaswerk, dessen Nutzung aufgrund seiner baulichen und geografischen Struktur allerdings schwierig ist. Selbst der große alte Mann der deutschen Industriekultur, Prof. Karl Ganser, der sich intensiv mit einer Perspektive für die spröde Schönheit befasst hat, ist keine wirklich schlüssige Lösung eingefallen. Die derzeit gern herbeizitierten blühenden Kreativlandschaften nach Art der Leipziger Baumwollspinnerei werden in Augsburg-Oberhausen aus vielen Gründen so nicht entstehen. Hier erkennt so mancher den grundsätzlichen strukturellen Unterschied der beiden Städte nicht. Orte, in denen durch Umnutzung bestehender Bauten erfolgreiche neue Kreativquartiere entstanden sind, haben in der Regel ein weitaus größeres künstlerisches Potenzial, als es hier anzutreffen ist, beispielsweise in Form einer Kunstakademie oder Kunsthochschule. Mit einer Umsiedlung des Kulturparks West in das Gaswerk allein ist es also nicht getan. Doch warten wir vor weiteren Diskussionen die ersten Ergebnisse der im Sommer in Auftrag gegebenen Machbarkeitsstudie ab, die nach der Kommunalwahl zu erwarten sind.
Auf der Website der Stadt Augsburg zeigt sich, wie und wo in der stadtverwaltenden Struktur die Stadtentwicklung gesehen und positioniert wird: als Teilaspekt der Stadtplanung. Zuständig ist das Stadtplanungsamt. In Ulm hingegen läuft das anders. Dort gibt es einen Fachbereich »Stadtentwicklung, Bau und Umwelt«. Die Stadtentwicklung ist hier eine übergeordnete Aufgabe. Erst kommt die Stadtentwicklung, dann die Stadtplanung, dann der Städtebau.
Die Stadt wird mit Orientiertheit am sehr Konkreten, am vordergründig Machbaren allein nicht zukunftsfähig
Am 26. Mai 2011 hat der Augsburger Stadtrat einstimmig die Erstellung eines Stadtentwicklungskonzeptes beschlossen. Die detaillierte Beschlussvorlage des Stadtplanungsamtes kann man von der städtischen Website downloaden. Doch was ist inzwischen passiert? Wurde ein Stadtentwicklungskonzept erarbeitet? Oder wenigstens damit begonnen? Die Website bietet keinen Hinweis zum Stand der Dinge. Einzelne Fachkonzepte sind vorhanden, wie Kleingartenentwicklung, Solar- und Windkonzepte. Ein Bauflächenkonzept als Grundlage der Fortschreibung des Flächennutzungsplans wird entwickelt. All dies soll in ein Stadtentwicklungskonzept eingehen. Keine Frage, die Erfassung der Ist-Zustände ist ein unabdingbarer Schritt. Doch mit dieser starken Orientiertheit am Konkreten, am vordergründig Machbaren allein wird die Stadt nicht zukunftsfähig. Existiert eine Denkschrift als grundlegender Fahrplan und begleitendes Instrument? Offenbar nicht. Wenigstens wird ein interner Arbeitskreis noch in diesem Jahr starten. Doch bis erste Ergebnisse auf dem Tisch liegen, dauert es wohl noch ein bis zwei Jahre.
Die Frage ist doch: Wer sind wir? Wer wollen wir sein?
Augsburg ist immer noch auf der Suche nach einer neuen Identität. Die glorreichen Zeiten der Textilindustriestadt sind endgültig vorbei, klassische große Industriebetriebe verschwinden zunehmend, doch neue Unternehmen entstehen im Bereich der Dienstleistung, der Kreativwirtschaft, der Forschung. Die Struktur der Stadtbevölkerung hat sich in den letzten Jahrzehnten gravierend verändert. Lebensläufe sehen heute anders aus als in den 1960er-Jahren. Rund 40 Prozent der Bewohner haben einen Migrationshintergrund, die beiden Hochschulen sind gewachsen. Urbanes Leben wird sich grundlegend ändern. Statt raus aus der Stadt heißt es wieder zurück ins Zentrum. Arbeiten in der Stadt und Wohnen im Vorort ist kein zukunftstragendes Modell mehr. Eine stärkere Vernetzung von Arbeit und Freizeit wird unser Leben bestimmen. Aufgabe der Stadtentwicklung ist es, hierfür eine Vision, eine Perspektive zu entwickeln. Und dies ist weit mehr, als Flächennutzungspläne zu schmieden, setzt wesentlich früher ein. Ohne eine Vision werden wir nicht weiterkommen. Die Frage ist doch: Wer sind wir? Wer wollen wir sein? Augsburg speist seine Identität großenteils aus Quellen, die lediglich in der Erinnerung existieren. Das ist verständlich und touristisch sicher erfolgreich. Doch wir fragen viel zu häufig nach der Außenwirkung, suchen nach Leuchtturmprojekten von überregionaler, am besten europaweiter Bedeutung, wie der Kulturhauptstadt-Bewerbung oder aktuell dem UNESCO-Weltkulturerbe-Konzept zur historischen Wasserwirtschaft. Vor lauter Außenwirkung, Marketing und Tourismus übersehen wir, dass ein weitreichendes Strahlen nur aus einer sicheren eigenen Identität kommen kann.
Perfekt gesteuerte städtische Organismen enden grundsätzlich im diktatorischen Albtraum
Eine zaudernde Stadtregierung, die einerseits populistisch nach dem Motto »Sie wünschen, wir spielen« agiert und andererseits nach Investoren und deren rein ökonomisch ausgerichteten Interessen schielt, kann nur scheitern. Ohne ein transparentes, nachvollziehbares Konzept für eine Stadtentwicklung, die den sich ändernden Bedürfnissen entspricht, die gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Anforderungen im Auge behält und vor allem auf Bürgerbeteiligung setzt, ohne eine Kultur der Beteiligung, der direkten Demokratie wird es keine tragfähigen zukunftsorientierten Konzepte geben. Desaströse Fehlplanungen, wie sie auf den ehemaligen Brauereigeländen zwischen Maximilianstraße und Adenauerallee zu besichtigen sind – in ihrer Bauträgerbanalität kaum zu überbieten –, wären vermeidbar gewesen. Viele begeistert aufgenommene Pläne, die irgendwelche Investoren hochglanzorientiert präsentiert haben, erwiesen sich als Windeier, von den man später nie wieder etwas hörte oder die auf halber Strecke versackten. Andererseits ist zunehmend zu beobachten, dass kaum eine einzelne Maßnahme, die das bauliche Umfeld der Stadt betrifft, unwidersprochen umgesetzt wird. Besonders Bäume haben es den Augsburgern angetan; jede beabsichtigte Fällung führt zu großer Empörung. Folge: Die Stadt rudert zurück, ganze Planungen werden geändert. Ob diese neue Lösung immer die bessere ist, bleibt fraglich. Doch die Tatsache, dass die Augsburger Wutbürger ihre Stimme erheben, bedeutet (neben Wahlkampfspielen) auch, dass es an nachvollziehbaren Konzepten mangelt, dass es an Transparenz fehlt. Es entsteht der Eindruck, dass die Stadtregierung keineswegs weiß, was sie will. Und nicht weiß, was die Bürger dieser Stadt wollen und vor allem brauchen. Populistische Einzelmaßnahmen mögen den Volkszorn beruhigen, sie ersetzen aber keine langfristigen Konzepte. Auf diese Weise entsteht lediglich ein Flickenteppich zufällig aneinandergereihter Beschwichtigungen. Nicht alles muss bis ins Letzte durchgeplant sein. Lebendige Urbanität entsteht auch im Wildwuchs, im Unregulierten, ja, auch im Hässlichen. Perfekt gesteuerte städtische Organismen enden grundsätzlich im diktatorischen Albtraum. Doch ist dies kein Freibrief für mangelndes Interesse an einer grundsätzlichen Idee zur Zukunft unserer Stadt. Visionen sind nicht immer ein Fall für den Arzt. Ohne Vorstellungen darüber, wie wir in unserer Stadt leben wollen, wird Augsburg nur hin und her gezerrt zwischen Investoren, Lobbyisten, Gruppierungen, die primär ihre eigenen Interessen im Blick haben. Deswegen muss eine unabhängige Struktur geschaffen werden, die übergreifend und integrierend an einem Konzept der Stadtentwicklung arbeitet. 2007 wurde in Leipzig als europäisches Modell die Charta zur nachhaltigen integrierten Stadtentwicklung verabschiedet. Auch ohne konkrete Umsetzungshandhabe lässt sich dies als gedankliche Grundlage einsetzen.
Visionen sind nicht immer ein Fall für den Arzt
Die Formulierung einer städtischen Vision birgt die Gefahr, ein solches Konzept für unumstößlich zu halten und alles und jedes daran zu messen. Doch Stadtentwicklung ist kein einmalig zu erledigender Job, sondern ein immerwährender Prozess, der permanente Überprüfung und Fortschreibung verlangt und vor allem auch Freiräume und Biotope zulässt, die keinem Plan unterliegen. Stadtentwicklung ist die nie endende Aufgabe, die eigene Stadt an die Bedürfnisse ihrer Bürger anzupassen und vor allem auch für die Zukunft stark zu machen. Solange wir nur über Nutzungsmöglichkeiten urbaner Flächen nachdenken, kommen wir nicht weiter. Die Formulierung einer städtischen Identität wäre ein Anfang.