Museum der Zukunft

Überlegungen zu einem nachhaltigen Museum der Zukunft. Ein Gastbeitrag von Karl Borromäus Murr
Angesichts der gegenwärtigen Klimakrise erleben der Begriff und das Konzept der Nachhaltigkeit eine einmalige Konjunktur. Aber was ist Nachhaltigkeit überhaupt? In einer ersten Annäherung ließe sich formulieren: Nachhaltigkeit bedeutet, in Anlehnung an den berühmten Brundtland-Bericht, die Möglichkeit, »die Bedürfnisse der Gegenwart zu stillen, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen«.
Was in dieser Definition auf den ersten Blick sehr plausibel erscheint, ist – das sei hier nur angedeutet – für eine philosophische Ethik gewissermaßen Neuland, nämlich eine Verpflichtung der Gegenwart nicht nur für heute, morgen und übermorgen, also nicht nur für die Kinder- und Enkelgeneration, sondern für eine in weiter Ferne liegende Zukunft in Verantwortung zu nehmen. Die ethische Herausforderung: Die Kraft moralischer Solidarität scheint sich mit der Zunahme von Distanz abzuschwächen – dies gilt sowohl in geografischer als auch in temporaler Hinsicht. Wie es eine Herausforderung darstellt, uns Heutige für die Erdenbewohner in dreihundert Jahren in die Pflicht zu nehmen, fällt es Menschen des Globalen Nordens schwer, sich mit der Bevölkerung des Globalen Südens zu solidarisieren, die vornehmlich mit den Folgen des rasanten Ressourcenverbrauchs des Globalen Nordens konfrontiert ist.
Und wir alle sind uns des Paradoxes bewusst: Auch wenn sich sämtliche ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Prozesse weiter beschleunigen – auch wenn die meisten Planungsvorgänge in den verschiedenen sozialen Systemen zunehmend kürzer getaktet sind, wäre es doch unsere tatsächliche Aufgabe, gegenläufig – nämlich langfristig – zu denken und zu handeln. Hier deutet sich bereits an, dass man es im Umgang mit der Klimakrise und mit Nachhaltigkeit mit einem komplexen Kausalgefüge zu tun hat, das sich einfachen Reduktionen von Ursache und Wirkung entzieht.
Deshalb verwundert es nicht, dass sich im Denken von Nachhaltigkeit die Forderung auf ein vernetztes Denken, ein systemisches Denken, ja ein kybernetisches Denken richtet, das der Komplexität eines teils unübersichtlichen Sachverhalts gerecht wird – eines Sachverhalts, in dem im Grunde alle gesellschaftlichen Systeme miteinander verquickt sind.
In der Welt des Museums jedoch, zumal in Deutschland, ist das Thema Nachhaltigkeit vergleichsweise spät angekommen. Auf den ersten Blick, so scheint es, widersprechen sich sogar die Handlungsziele von Museen einerseits und Nachhaltigkeit andererseits – sind doch Museen als Agenturen der Erinnerung vorrangig auf die Vergangenheit gerichtet, und ist doch Nachhaltigkeit als futurische Verpflichtung vor allem auf die Zukunft gerichtet. Doch dieser vermeintliche Widerspruch löst sich rasch auf, denn Museen kümmern sich nicht um die Vergangenheit als solche, sondern um eine Rekonstruktion, um eine Bewahrung von Geschichte im Dienst der Gegenwart und Zukunft. Es war Bazon Brock, der prägnant formuliert hat: Das »Museum ist die wichtigste aller Zivilisationsagenturen für die Zukunft«. Geschichte erzählt sich demnach immer von der Position der Gegenwart in die Zukunft hinein. Ähnlich schreibt Max Frisch über Geschichte: »Ich weiß nie, wie es war. Ich weiß es anders – nicht als Geschichte, sondern als Zukunft. Als Möglichkeit.« Nur wenn wir Museen als kreative Katalysatoren von Möglichkeiten begreifen, erlauben sie uns, den Umgang mit Vergangenheit nachhaltig zu perspektivieren. Und diese Aufgabe ist nicht lediglich eine kulturelle Aufgabe, sondern eine ethisch-moralische Verpflichtung. Der verantwortliche Umgang von Museen mit Nachhaltigkeit vor dem Hintergrund der skizzierten Komplexität steht deshalb vor großen Herausforderungen, die auf unterschiedlichsten Ebenen zu adressieren sind. Vor allem sind die Herausforderungen von Nachhaltigkeit nicht auf ökologische Nachhaltigkeit zu reduzieren, sondern beinhalten ebenso die ökonomische wie die gesellschaftliche Nachhaltigkeit.
Die Weltgemeinschaft hat sich unter dem Dach der Vereinten Nationen im Jahr 2015 mit der Agenda 2030 auf 17 Nachhaltigkeitsziele verpflichtet, die sustainable development goals, die an die »Verantwortung aller Akteure: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft – und jedes einzelnen Menschen« appellieren. Nachhaltigkeit zeigt sich mit den Nachhaltigkeitszielen als ganzheitliche Aufgabe. Wenn wir diese Nachhaltigkeitsziele durch das Prisma Museum betrachten, sind für den musealen Bereich relevant: »Gesundheit und Wohlergehen«, »Hochwertige Bildung«, »Weniger Ungleichheiten« (z.B. Geschlechtergerechtigkeit), »Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum«, »Nachhaltige Städte und Gemeinden«, »Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen« sowie »Partnerschaften zur Erreichung der Ziele«. Auch wenn die technischen und physikalischen Dimensionen von Nachhaltigkeit von höchster Wichtigkeit sind, die der ökologischen und nicht zuletzt ökonomischen Nachhaltigkeit zuzurechnen sind, konzentrieren sich die folgenden Überlegungen jedoch auf die Thematik der gesellschaftlichen Nachhaltigkeit. Hierfür seien ein paar konkrete Beispiele vorgestellt, die ich fast alle persönlich kennengelernt habe.
So rücken etwa »Gesundheit« und »Wohlbefinden« in letzter Zeit in den Mittelpunkt des musealen Interesses, wobei Gesundheit bewusst auch die psychische Gesundheit einschließt. Als Beispiel seien die sehr erfolgreichen Museumsprogramme mit an Demenz erkrankten Menschen genannt, wie sie das Freilichtmuseum Den Gamle By in Aarhus, Dänemark durchführt. Diese Projekte arbeiten mit dem Faktor, dass gerade Freilichtmuseen historische Szenarien, z.B. aus den 1950er-Jahren, bereitstellen, die mittels Sinneswahrnehmungen Gedächtnisblockaden bei Demenzkranken zumindest für eine gewisse Zeit lösen bzw. überwinden können. Erfolgreiche Museumsprojekte, die sich der Sozialfürsorge oder der Förderung des Wohlbefindens der Bürger widmen, müssen jedoch nicht unbedingt innerhalb der Museumsmauern stattfinden. Sie können auch im Sinne eines Reach-out Menschen außerhalb des Museums ansprechen, wenn diese Orte sozial förderliche Räume bieten. Im Jahr 2016 haben drei Museen in Cornwall, das Royal Cornwall Museum (Truro), das Telegraph Museum (jetzt: Museum of Global Communications), Porthcurno und die Falmouth Art Gallery (Falmouth), Programme entwickelt, um die Einsamkeit und soziale Isolation von Menschen in abgelegenen oder ländlichen Gebieten zu bekämpfen. Diese erfolgreichen Programme fanden vor Ort in Zusammenarbeit mit Pflegeheimen und Betreuungseinrichtungen statt.
Das Trapholt Museum for Modern Art, Craft and Design im ländlichen Jütland, Dänemark pflegt und unterstützt ebenfalls seit mehreren Jahren seine »Gemeinschaft in einer Welt der Isolation und Einsamkeit«. Auch wenn das Trapholt Museum sehr innovativ mit sozialen Medien arbeitet, bleibt die persönliche Begegnung der Menschen dort ein zentraler kommunikativer, ja existenzieller Faktor. In den Bereich der UN-Nachhaltigkeitsziele fallen auch Museumsprojekte, die dem Abbau sozialer Ungleichheit dienen. Häufig manifestiert sich soziale Ungleichheit in Identitätskonstruktionen wie Nationalität, Ethnie, Religion, Geschlecht oder sozialer Klasse. Museen können in der Auseinandersetzung damit als soziale Laboratorien der Zukunft im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit fungieren – im Streben nach einer gerechteren und gleichberechtigteren Gesellschaft.
Das Staatliche Textil- und Industriemuseum Augsburg (tim) startete 2018/19 ein Projekt, das der gesellschaftlichen Vielfalt seines städtischen Standorts gerecht werden wollte. Das Projekt »Augsburg 2040 – Utopien einer vielfältigen Stadt« machte hundert Menschen aus verschiedenen städtischen Communitys zu Kuratoren ihrer eigenen Zukunft in einer Stadt, in der rund 50 Prozent der Bevölkerung eine Zuwanderungsgeschichte haben – 50 Prozent, die in der öffentlichen Kultur häufig unterrepräsentiert sind.
Das dänische KØN – Gender Museum in Aarhus, Dänemark konzentriert sich insbesondere auf den Abbau der Geschlechterungleichheit. Zu diesem Zweck bietet es umfangreiche Lernprogramme an. Allein im Jahr 2019 führte das Museum 326 Kurse durch, vor allem zur Sexualerziehung für Schülerinnen und Schüler der vierten bis zehnten Klasse. Die Tatsache, dass im selben Jahr 63 Prozent der Besucher zwischen 14 und 29 Jahre alt waren, spricht für den Erfolg dieser Einrichtung, die sich durch ihren Aktivismus auch im dänischen Parlament Gehör verschafft hat.
Die Jamtli Stiftung in Östersund, Schweden die in erster Linie ein Freilichtmuseum betreibt, liefert ein weiteres Beispiel für ein Museum, das als gesellschaftlicher Akteur Verantwortung übernimmt. In Reaktion auf die internationale Flüchtlingskrise 2015 hat das Museum gemeinsam mit der Gemeinde Östersund insgesamt 13 neue Häuser auf seinem weitläufigen Museumsgelände gebaut, um junge Flüchtlingsfamilien, hauptsächlich aus dem Nahen Osten, unterzubringen.
Als letztes Beispiel dafür, wie Museen soziale Ungleichheit bekämpfen, soll das Museum of Homelessness (MoH) vorgestellt werden, das »von Menschen mit direkten Erfahrungen mit Obdachlosigkeit gegründet und geleitet wird«. Das 2015 in London gegründete MoH hat die Aufgabe, »die nationale Sammlung für Obdachlosigkeit aufzubauen, die Geschichte von Obdachlosigkeit, Armut und sozialem Handeln zu bewahren und zu teilen«. Diese klassischen Museumsaufgaben werden durch den aktiven Kampf gegen Obdachlosigkeit beflügelt. In diesem Sinn formulieren die Museumsinitiatoren: »Gemeinsam ergreifen wir praktische Maßnahmen wie die Verteilung von Lebensmitteln, die Interessenvertretung und die Vermittlung von Menschen an rechtliche und klinische Unterstützung. Dies ist ein kontinuierlicher Teil unserer Arbeit. Unser Ansatz ist personenzentriert, langfristig und bedingungslos.« In ihrem Selbstverständnis geht es den Macherinnen und Machern dieses Museums nicht um Aktivismus, sondern – viel grundsätzlicher – um einen ethisch verstandenen »gesunden Menschenverstand«, der sich in konkreter sozialer Fürsorge ausdrückt. Elemente dieser Fürsorge sind, in Zusammenarbeit mit Künstlern, Information und Aufklärung zum Thema Obdachlosigkeit.
Will man am Ende meiner skizzenhaften Ausführungen Museen Ratschläge an die Hand geben, die eine gesellschaftliche Nachhaltigkeit zu fördern in der Lage sind, so seien folgende Stichworte genannt: Partnerschaften bilden, Vernetzung vorantreiben, die junge Generation ins Boot holen, vertiefte Beziehungen zur Besucherschaft etablieren, Verantwortung für die lokale Gemeinschaft wahrnehmen im Einklang mit einer globalen Welt, den Vertrauensvorschuss musealer Arbeit nutzen, Foren für Austausch und Diskurs zur Verfügung stellen, Qualität statt Quantität anbieten und, nicht zuletzt, langfristig statt kurzfristig denken. Eine so beförderte gesellschaftliche Nachhaltigkeit vermag dann zusammen mit ökologischen und ökonomischen Handlungsfeldern Museen in historische Agenturen der Zukunft zu verwandeln.

Dr. Karl Borromäus Murr ist Historiker, Philosoph und Museologe. Seit 2009 ist er Direktor des Staatlichen Textil- und Industriemuseums tim.