Theater & Bühne

Liebe ohne Leiden

Das Staatstheater Augsburg zeigt »Nora oder Ein Puppenheim« im Martini-Park. Dank der körperlichen und mentalen Höchstleistungen der Schauspieler*innen entsteht ein grotesker und zugleich witziger Theaterabend.

Um einst ihren schwerkranken Mann auf eine überlebenswichtige Kur schicken zu können, fälschte Nora die Unterschrift ihres sterbenden Vaters. An Heiligabend holt sie diese kriminelle Geschichte durch einige Verwicklungen wieder ein – und innerhalb von drei Tagen stellt sie das Leben der gutbürgerlichen Familie Helmer auf den Kopf.

Susanne Lietzow versetzt die Titelheldin aus Henrik Ibsens Stück buchstäblich in ein Puppenhaus: Die Regisseurin unterzog ihre Schauspieler*innen einem sechswöchigen Puppen-Training, in dem sie mechanische Bewegungen bis ins Detail einstudieren und gleichzeitig eine individuelle Sprachmelodie bewahren mussten. Eine grandiose körperliche und mentale Höchstleistung, bei der man nur restlos beeindruckt Chapeau sagen kann. Minutenlang werden in immer gleichen Bewegungen Zigarren geraucht, Kinder bespaßt, genäht, im Raum hin und her gegangen – man glaubt irgendwann, einer düsteren, biederen Version der Augsburger Puppenkiste beizuwohnen. Die Schauspieler*innen erinnern an Marionetten, aber auch an Schaufensterpuppen, Barbie-&-Ken-Figuren oder Sims-Charaktere aus dem gleichnamigen Videospiel. Der Eindruck entsteht, dass man sich nicht auf eine Inspirationsquelle festlegen wollte – was jedoch zusätzliche spielerische Möglichkeiten eröffnet.

Ein besonderer Kniff der Inszenierung ist die Einbindung bekannter deutscher Schlager wie »Liebe ohne Leiden« von Udo Jürgens. Auch hier prallen zwei Welten aufeinander – vermeintliche Idylle und schonungslose Wahrheit. Wenn der todkranke Doktor Rank (Thomas Prazak) »Über den Wolken« von Reinhard Mey melancholisch zur Synthesizer-Musik singt, erhält der fröhliche 70er-Hit eine berührende Tiefe. Wie die Schlager der 60er- und 70er-Jahre (Musik: Gilbert Handler), die pastellfarbenen 50er-Jahre-Kostüme und das akkurate Ikea-Puppenheim (Bühne & Kostüm: Aurel Lenfert) eine perfekte, unzerstörbare Welt vorgaukeln, zeigt sich auch hier: Es ist bloß Illusion – und alles andere als erstrebenswert.

So erkennt Nora (Jenny Langner) schließlich im dritten Akt, dass sie ihre Puppenstube besser verlassen sollte – ihr Mann Torvald (Sebastian Müller-Stahl als grandioser Grusel-Ken) sieht sie ohnehin nur als »dummes Ding«, »Lerche« oder »Eichhörnchen«.

Ibsens Stoff von 1879 thematisiert den sozialen Status der Frau in der Gesellschaft und kritisiert das bürgerliche Konzept der Hausfrau – ein Thema, das gerade in den sozialen Medien wieder Aufwind erfährt. Traditionelle Hausfrauen, sogenannte Tradwives, die sich hübsch und hingebungsvoll um Mann und Kinder kümmern, erleben auf Instagram, TikTok und Co. ein Comeback.

Absurd und grotesk, witzig und gruslig – die Inszenierung bietet viel, aber auch nicht genug. Noch mehr Figurenbrüche, ein größerer Twist im »Puppenspiel« und vor allem ein straffer gekürzter erster Teil wären wünschenswert gewesen.

Am Ende erscheint Nora nackt mit Glatze – wie eine neugeborene Schaufensterpuppe – und verlässt Heim, Herd und Kinder. Die Frage bleibt offen, ob sie sich nun selbst finden wird oder lediglich eine neue Perücke und ein neues Kleid. Vielleicht hätte sie sicherheitshalber auf einer Abrissbirne à la Miley Cyrus das komplette Puppenheim einreißen sollen …

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