Das Quartier

Die Silhouette des Gaskessels dominiert die Skyline der Stadt mit den Spitzen von Hotelturm, Dom und Ulrichskirche. Mit knapp 100 Metern Höhe ist er Orientierungspunkt nicht nur für die benachbarten Stadtteile im Norden von Augsburg. Ein starkes Bild für die Rolle der Arbeiterschaft bei der Entwicklung der Stadt seit Beginn der Industrialisierung. Ähnlich ihrer Klasse erfährt seine Bedeutung durch die Öffentlichkeit unzureichend Aufmerksamkeit und Würdigung.
Der Gigant ist prominentester Teil des Industriekulturdenkmals Gaswerk. Es liegt an der Schnittstelle zwischen Kriegshaber, Bärenkeller und Oberhausen. Die Menschen dieser Arbeiterviertel prägten nicht nur Image und Identität des Quartiers, sondern der ganzen Stadt entscheidend mit.
Die ältesten Teile des Gaswerksareals sind über hundert Jahre alt. Hier wurde Industriegeschichte geschrieben, als die MAN 1915 den ersten Scheibengasbehälter weltweit vor Ort in Betrieb nahm. Das Areal der swa, dem stadteigenen Verkehrsbetrieb und Energieversorger, war jahrelang eine Brache. Nachdem die Umstellung von Stadt- auf Erdgas erfolgt war, wusste keiner so recht, was mit der weitläufigen Anlage, in der einst Koks zu Gas verbrannt wurde, anzufangen sei. Einer ebenso raschen wie gewinnbringenden Verwertung als Einkaufszentrum samt Amüsierbetrieben standen nicht zuletzt Tonnen verseuchtes Erdreich und kontaminierte Gebäude entgegen.
Die wachsende Sensibilisierung für den Wert solchen Erbes adelte irgendwann schließlich auch das Gaswerk mit Ensembledenkmalschutz, samt verbrieftem Erhalt der parkähnlichen Außenflächen. Auf diese Weise vorerst einer kommerziellen Ausschlachtung entzogen, setzte man letztendlich auf Kultur und kreativgewerbliche Nutzungskonzepte, um mit dem alten Gaswerk neue Wege zu gehen. Strahlkraft soll hier im Dienste der Stadt entwickelt werden, die weit über die Grenzen Süddeutschlands reicht.
Im Quartier rund um das Gaswerk wuchs über die Jahrzehnte ein Gewerbegebiet, wie sie unsere Gegenwart zahllos und überall zu bieten hat. So der schnelle Blick.
Welche Bedeutung haben Kunst und Kulturarbeit in unseren Quartieren für die Menschen in den Nachbarschaften und für unsere Gesellschaft als Ganzes?
Im Süden und Osten Bahnlinien. Enge Unterführungen schaffen Verbindungen in die Nachbarschaft. Im Westen fräst sich, spärlich überbrückt, die vierspurige Bundesstraße 17 durch einen Schacht. Lediglich der Holzweg im Norden bietet einen Zugang ins Quartier, gewährt Einblicke. Hier haben sich Handwerksbetriebe und der Fachhandel niedergelassen. Eine Tankstelle mit Kaffeebar und Lottoannahme stellt auf halbem Weg so etwas wie den sozialen Mittelpunkt der Strecke dar. Auf der gegenüberliegenden Seite Gebets- und Schützenhaus, Fernmeldeturm, Schrebergartensiedlung und Wertstoffsammelstelle.
Die südliche der beiden ins Quartier stechenden Querstraßen bringt die Besucher zum Discounter, Baumarkt und zu den letzten Wohnblocks der Nachbarschaft. Die nördliche Stichstraße führt im vorderen Teil an Bordellen und Sporteinrichtungen vorbei und gelangt dann an eine Großwäscherei und imposante Kraftstofftanks. Wieder vereint werden diese Verbindungen durch die August-Wessels-Straße. Diese ist von bemerkenswerter Tristesse und markiert die längste seitliche Begrenzung des Gaswerksareals. Demgegenüber bietet der Deuter-Park Platz für einen Mix aus Großlabor, Jobcenter, IT-Branche und anderen Dienstleistern. Die größte Einzelfläche im Quartier beansprucht der Schrott- und Rohstoffhandel. Es folgt ein Polizeirevier. Etwas verlassen steht es kurz vor der Unterführung zur alten Wesselschen Schuhfabrik, einige Meter über Straßenniveau.
Die a3kultur-Redaktion kam im Corona-Sommer 2020 ins Quartier, um im Ofenhaus einen Vernetzungskongress für Kultur, Wirtschaft und Politik zu organisieren. Eine Performance wurde aus diesem Anlass bei der Künstler*innengruppe Schöne Felder in Auftrag gegeben. Sie fiel, wie so vieles in diesen Tagen, der Pandemie zum Opfer. Als kurzfristige Alternative dazu entstand qp, die Idee eines Kunstparcours quer durchs Quartier als Sichtbarmachung von Orten und der beteiligten Künstler*innen.
Für eine Ausschreibung blieb kaum Zeit. Die Tatsache, dass bei qp keine Antrittshonorare zu realisieren waren, führte zu Diskussionen. Wie war das mit der Forderung nach fairer Honorierung im Kulturbetrieb, die auch von der a3kultur-Redaktion unterstützt wird, zu vereinbaren? Schließlich fand sich ein Kompromiss: Die ausgewählten Interventionen sollten unabhängig von ihrer späteren Umsetzung Teil dieser Dokumentation werden. Außerdem beschlossen wir, den ersten a3kultur-Preis auszuloben und diesen an Künstler*innen aus dem Kreis der Beteiligten zu verleihen.
24 Ideen für Interventionen hatten wir am Ende der Einreichungsfrist im August gemeinsam mit dem künstlerischen Leiter des Projekts, Bernhard McQueen, aus den eingegangenen Zusendungen ausgewählt.
Uns überraschte, dass die meisten dieser Ergebnisse doch um einiges komplexer waren, als wir es uns bei der Konzeptentwicklung vorgestellt hatten. Ziel war nun, diese Interventionen bis zum Herbstende umzusetzen und zu dokumentieren. Es gelang uns bei den meisten.
Diesen Part mussten wir jedoch ohne Bernhard McQueen angehen. Unser künstlerischer Leiter war gezwungen, die Arbeit für qp einzustellen. Seine Vergangenheit als Graffitikünstler hatte ihn eingeholt und hinter Gitter gebracht. Wir beschlossen, qp trotzdem zu Ende zu bringen. Das Projekt wuchs jedoch über die Grenzen der Idee eines Kunstparcours im Quartier hinaus.
Ausschlaggebend dafür war, dass sich im Lauf der Zeit eine erweiterte Sichtweise im qp-Team einstellte, getrieben von einer speziellen Neugierde auf das Quartier. Die neu geknüpften Kontakte in die Nachbarschaften des Gaswerkareals blieben nicht ohne Folgen.
So lernten wir Menschen kennen, die in den benachbarten Kirchengemeinden Kulturarbeit machen, fanden zu Kooperationen mit dem Staatstheater Augsburg, das mit der Brechtbühne sowie Büros und Werkstätten vor Ort ist. Wir trafen uns mit Vertreter*innen des städtischen Quartiersmanagements, mit Kulturgruppen und Vereinen, die sich im Gaswerk engagieren. Wir lernten Unternehmer wie Tobias Emminger, den Chef der Ofenhausgastronomie als Förderer zu schätzen. Und erlebten für das Gaswerk verantwortlichen Mitarbeiter*innen der swa wie Reidar Nyreröd und Nihat Anaç als engagierte Mitstreiter.
Sie setzten sich in ihrem Unternehmen für die Realisierung zahlreicher qp-Interventionen ein und halfen so, Präzedenzfälle in Sachen Kunst im öffentlichen Raum auf dem Areal zu schaffen. Nachfolgende Projekte werden wohl von dem geschaffenen Selbstverständnis und der Montageinfrastruktur vor Ort profitieren.
In den letzten Monaten durchstreiften wir das Quartier ausgiebig. Sich in einem Gewerbegebiet auf Spaziergängen und Exkursionen umzusehen, mag für die einen oder anderen auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen. Doch die Nachbarschaften rund um das alte Gaswerk sind nicht eintönig, nicht von parzellenhafter Gleichheit geprägt.
24 Ideen für Interventionen hatten wir am Ende der Einreichungsfrist im August aus den eingegangenen Zusendungen ausgewählt
Entdeckungen können gemacht werden. Die in Nutzung und Zuschnitt verschiedenartigen Grundstücke beherbergen vor allem Industrie- und Gewerbearchitektur unterschiedlichsten Charakters aus über zehn Dekaden. Im Zentrum die geschützte Industriekultur des alten Gaswerks, das sich in der postmodernen Fassade des Deuter-Turms spiegelt. Von dieser spielerischen architektonischen Qualität würde man sich mehr Zeugnisse wünschen – im ganzen Stadtgebiet. Individuelle Fertigungshallenplanung trifft hier auf gewaltige Kraftstofftanks und putziges Siedlerhausglück auf schnell aufgestellten Discounter-Hardcore. Die im Quartier verbliebenen Wohnorte finden sich zwischen Bahndamm, Polizei und Supermarkt. Ehemalige Betriebswohnungen mit Schrebergartenidylle zwischen den Blocks. Freiräume individueller Gestaltung.
Und überall lässt sich Kunst entdecken: bewusst, gewollt, versteckt oder erst durch Dritte oder neue Zusammenhänge zu solcher erklärt. Besuchenswert allemal und schon an Ort und Stelle, bevor qp als Idee zu pulsieren begann.
So fanden wir Graffitis und Wandmalereinen von den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Auf den Gleisen der Localbahn zogen Loks bemalte Waggons wie mobile Galeriewände durch das Quartier. Einige Unternehmen leisten sich ebenso aufwendige wie mysteriöse Skulpturen auf dem Firmengelände. Den Eingang des privaten FKK-Clubs bewachen Steingusslöwen in Goldlack. Sind sie nicht dem Atelier von Jeff Koons entsprungen? In den Fenstern des Jobcenters wirbt die Bundesbehörde mit Schattenmotiven von Berufen im Niedriglohnsektor wie im Ausverkauf. Und im Ofenhaus trennt Gerold Sauters fantastische Wolke aus feinem Drahtnetz den Restaurant- vom Theaterbetrieb.
Was bedeuten Kunst und Kultur im Quartier für die Menschen, die in dieser Nachbarschaft leben, arbeiten, Immobilen und Betriebe besitzen, auf der Durchreise oder zu Besuch sind – im Jobcenter, in der Brechtbühne, im Fitnesscenter oder als Kundschaft?
Welche Bedeutung haben Kunst und Kulturarbeit in unseren Quartieren für die Menschen in den Nachbarschaften und für unsere Gesellschaft als Ganzes?
Unter welchen Voraussetzungen geschehen Kunst und Kulturarbeit in den Quartieren?
Die a3kultur-Redaktion wird diese Fragen in den kommenden Monaten weiter mit den Menschen im Gaswerkquartier besprechen, diese Ergebnisse sammeln und ebenso dokumentieren wie qp, den Quartier-Parcours beim Gaswerk.
Im Dezember erscheint der Katalog zu qp mit Interventionen von 24 Künstler*innen und Kulturgruppen im Gaswerkquartier. Auf 60 Seiten werden die Macher*innen, ihre Ideen und das dahinterstehende Konzept vorgestellt.
Bestellungen (20 Euro inklusive Versand) mit Name und Anschrift an: qp@art3kultursalon.de – Betreff: qp-Katalog