Club & Livemusik
Festival

Von Avantgarde bis Zerfall – und zurück

Drexciya Label
Gastautor

Das Live-Debüt von Daughter Produkt in Augsburg bringt das Beste an Techno auf den Punkt. Ein Gastbeitrag von Gerald Fiebig

 

Zwischen den beiden Annahof-Konzertabenden des Water & Sound Festivals fand heuer am Freitag, den 26. Juli auch eine Techno-Nacht im City Club statt. Eröffnet wurde sie mit dem allerersten Livekonzert von Daughter Produkt. Damit ist Water-&-Sound-Kurator Girisha Fernando ein Coup gelungen, der im Kontext elektronischer Musik an die Sensation heranreicht, die er im provinziellen Augsburg mit dem Booking von »Godmother of Punk« Patti Smith beim Brechtfestival 2014 auslöste.

Eine Hälfte des Duos, das am 26. Juli als Live-Inkarnation des Klangforschungskollektivs Daughter Produkt auftrat, ist nämlich Heinrich Mueller (die anderen Beteiligten des Kollektivs finden sich aufgelistet unter https://daughterprodukt.bandcamp.com). Das deutsche Pseudonym, unter dem er seit seinem Umzug nach Europa auch als Resident-DJ im Berliner Techno-Mekka Tresor tätig war, verdankt sich der Begeisterung der Detroiter Techno-Gründergeneration für den Sound von Kraftwerk. Denn mit seinem legendären Projekt Drexciya gehörte er in den 1980ern zu eben jenen jungen Musikern aus Detroit, die das Genre Techno erfanden. Mit seinen bekanntesten Projekten Dopplereffekt und Arpanet ist er seit Jahrzehnten eine feste Größe auf Festivals und in Clubs von Portugal bis Georgien. Das eher ambient-orientierte als club-affine Projekt Avina Vishnu wurde 2019/20 als Klanginstallation ebenfalls in Augsburg erstmals präsentiert.

Aber was heißt schon »club-affin«? Nur Leute, die Techno nichts abgewinnen können, neigen dazu, ihn als rein funktionale Tanzmusik misszuverstehen. Doch speziell Techno aus Detroit war nie eine rein am Rhythmus interessierte Musik. Sequencermelodien und harmonische Synthesizerflächen waren stets ein fester Bestandteil seiner Ästhetik. »Unterkühlte Melancholie« oder »wissenschaftlich-nüchterner Konstruktivismus« beschreiben diese Ästhetik weit besser als die hyper- (hyper! hyper!) euphorisierte Feierwut, an die manche vielleicht beim Wort »Techno« denken.

Vor allem aber war das Selbstverständnis von Detroit Techno immer schon ein experimentelles, ja avantgardistisches. Die Verheißung völlig neuer musikalischer Freiheiten durch elektronische Instrumente und Klangerzeugungstechniken war ja eines der zentralen Motive der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, beginnend mit dem Futurismus. Schon Jahre bevor der Rock'n'Roll erfunden wurde und damit die Pop-Musik, wie wir sie heute kennen, suchten Komponist*innen (ja, es waren auch Frauen dabei [Beatriz Ferreyra, Daphne Oram, Delia Derbyshire, Eliane Radigue und Else Marie Pade, um jetzt nur mal ein paar zu nennen]!) und Tontechniker*innen (ich fürchte, da waren es sehr, sehr wenige Frauen) in den Experimentalstudios von Radiosendern und Universitäten der westlichen Hemisphäre nach bislang ungehörten Sounds. Ihren Eingang in die Popkultur fand diese Klangforschung u.a. über das, was dann später als Krautrock bezeichnet wurde. Spätestens bei Kraftwerk hatte das dann überhaupt nichts mehr mit Rock zu tun, verfügte aber über einen immensen Groove. Und die im Detroit der 1980er erfolgte Einspeisung der Soundströme aus dem europäischen Avantgarde-Kraftwerk ins Netzwerk (afro-) amerikanischer Musiktraditionen war kein Kurzschluss, sondern ein transatlantisches Feedback, das einen der Initial-Funken des Afrofuturismus zum Überspringen brachte.

Jenseits von Popmusik

Jener Detroit-Spirit, der sich fürs Experiment und den Aufbruch zu ganz neuen musikalischen Formen mindestens (!) so sehr interessiert wie für den Groove, war auch beim Debüt-Konzert von Daughter Produkt in jeder Sekunde greifbar. Das Set entfaltete sich, auftauchend aus einem Meer von immersiv-hypnotischen Drone-Flächen, die die akustischen Konturen des dunklen Clubs abtasteten, als etwa 45-minütige Suite aus mehreren Teilen. Jeder dieser Teile stellte unterschiedliche Aspekte elektronischen Musizierens in den Mittelpunkt, verknüpfte Sounds auf unerhörte Weise weit jenseits der Format-Konventionen von Pop- oder Tanzmusik, kurz: kenseits von dekonstruierten vorgestanzten Formen und der dazugehörigen Erwartungshaltung des Publikums nach allen Regeln der Kunst. Samples aus dem Klangforschungslabor des Kollektivs Daughter Produkt wurden in die Komposition des Abends eingebaut, der aber vor allem durch seine ersichtlich und hörbar live gespielten Parts bestach, namentlich durch die virtuose Beherrschung eines kompakten KORG-Synthesizers und seiner diversen Filter und Effekte.

Atmosphärische Harmonien zerfielen in abstrakte, zumeist hochfrequente Klangpartikel, nicht selten die Grenze vom Ton zum Rauschen, von Signal zu Noise überschreitend. Für diese Art von Klang-Zerlegung oder -Zersetzung ist der Projektname Daughter Produkt programmatisch: Das »Tochternuklid« oder »Zerfallsprodukt« ist das, was auf der atomaren Ebene vom radioaktiven Zerfall übrigbleibt. (So steht der Name in der naturwissenschaftlich-technischen Tradition der Vorgänger- und Parallelprojekte Dopplereffekt und Arpanet, wieder mal angereichert mit der germanisierenden Schreibweise als Kraftwerk-Hommage.)

Die Betonung spitziger Höhen – im Kontext einer auf Bässe optimierten Club-Anlage fast eine Provokation – ging über weite Strecken einher mit dem Verzicht auf jede Art von metrischer Rhythmik, bis dann doch ein bassgetriebener Beat einsetzte – und das kam nach dem extrem langen Spannungsaufbau, der vorangegangen war, einem sinfonischen Paukenschlag gleich. In die Magengrube. Aber liebevoll.

Kaum 20 Takte später jedoch wurde dieser gerade Rhythmus mit einem handgeschärften Slicer in ein mit dem Körper nicht mehr erfassbares, abstraktes Zittern und Knistern verwandelt, das an einen Avantgarde-Komponisten wie Iannis Xenakis erinnerte, ebenso wie man von den opulent-skulpturalen Klanggebilden anderer Teile an elektroakustische Komponisten der französischen Tradition wie Bernard Parmegiani erinnert wurde. (Wenn man die denn kennt.)

Grenzen nicht einreißen, sondern ignorieren

Man musste die aber gar nicht kennen, denn im Konzert von Daughter Produkt konnte man ja sowieso ganz viel von dem hören, was sie interessant macht – ebenso wie man, auch als jemand, der nicht auf Techno-Dancefloors zu Hause ist, in den Genuss kam von dem, was an repetitiver Tanzmusik gut ist. Das Großartige am Konzept und an der Performance von Daughter Produkt ist eben, dass sie alle Grenzen zwischen vermeintlicher Hoch- und Pop-/Clubkultur, zwischen abstrakter Klangforschung und körperlich erlebbarer Musik nicht so sehr einreißen als vielmehr von vornherein ignorieren. Und dabei nehmen sie ihr Publikum in jedem Moment vollkommen ernst, weil sie sich ihm in keinster Weise mit Blick auf vermeintliche Erwartungen des Clubkontextes anbiedern. Das Publikum im City Club verstand dies und folgte der Performance, die teilweise für einen Clubkontext ausgesprochen leise Stellen aufwies, fast durchweg in konzentrierter Stille, welche sich am Ende in herzlichen Applaus auflöste.

Drexciya, Dopplereffekt, Arpanet, Avina Vishnu – durch alle Projekte von Heinrich Mueller zieht sich (auf der Ebene von Titeln und Artwork) das Spiel mit Mehrfachcodierung, Zweideutigkeit, Hybridität: Mensch/Maschine, schwarz/weiß, links/rechts, männlich/weiblich – alle diese binären Trennungen gilt es aufzuheben, und was könnte das Medium dafür sein, wenn nicht Sound? »Radioaktiver Zerfall« mag auf den ersten Blick eine erschreckende Metapher sein – aber dass aller menschengemachte ideologische Unsinn und die Gewalt, die daraus entsteht, nur eine begrenzte »Halbwertszeit« hat (der Begriff kommt ebenso aus dem nuklearphysikalischen Umfeld wie das »Zerfallsprodukt«), ist doch eigentlich etwas sehr Tröstliches. Wenn als letztes Zerfallsprodukt der Menschheit und ihrer gewaltförmigen Präsenz auf diesem Planeten nur Sound übrig bliebe, wäre das nicht das Schlechteste. Dass Daughter Produkt ihr Debüt ausgerechnet im Rahmen des Augsburger Friedensfestes begingen, hätte damit so etwas wie einen tieferen Sinn erhalten. Dass Techno, jenes musikalische Produkt des Zerfalls der (Auto-) Industriestadt Detroit, ausgerechnet im Underground der zerfallenen (Textil-) Industriestadt Augsburg zu solch visionärer Bestform auflaufen durfte, war hingegen so unwahrscheinlich wie erfreulich. Wenn Krise und Bankrott auch in dieser Stadt hier noch solche Kreativitätsschübe auslösen könnten wie in den 1980ern in Detroit, stünde Augsburg kurz vorm Kollaps ja vielleicht noch ein – wenn auch kurzes – zweites goldenes Zeitalter bevor.

Gerald Fiebig

Gerald Fiebig (geb. 1973) macht Krach und schreibt auch darüber. Seine nächste eigene Performance (zusammen mit EMERGE und Tom Simonetti) findet am Sonntag, 8. September im Großen Scheibengasbehälter des Gaswerks statt.
www.geraldfiebig.net

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