Re:animation!
Tag 2 nach Wiedereröffnung der Friseurläden, Tag 5 beim digitalen Brechtfestival. Was das Festivalteam an Organisationsaufwand, digitalem Troubleshooting und ständiger Präsenz für Medienpartner leisten muss, kann man nur erahnen. Kurator Jürgen Kuttner spricht beim Studiotalk live aus Berlin gar von »Festivalerschöpfung«, er wäre aber nicht Kuttner, wenn er nicht doch, ganz gemäß den Neil Youngschen Songzeilen »It's better to burn out than to fade away«, nicht wieder alles gäbe und beim Talk tonnenweise Energie aus seinem geschundenen Kuratorenkörper abriefe. Co-Kurator Tom Kühnel verleiht durch seine stille, gütige Präsenz bei der Gesprächsrunde den Touch einer Gruppentherapie-Sitzung, seine stets mitgeführten Headphones um den Hals gehängt wie eine Stola.
Kuttner zitiert sich selber, er habe schon davon gesprochen, heute sei »Kindertag«. Grund: die vielen Trick-, Animations- und Puppen-Filme. Klar, steile Lippe, und natürlich nicht so gemeint – Kuttner ist der Herzschrittmacher des Talks und muss für Impulse und Reibungspunkte sorgen. Kleine technische Probleme bei der Live-Schalte ins Augsburger Brechthaus zu Gianna Formicone und Lisa Bühler von bluespots productions: verpixelter Ton. Dann, später, zweite Schalte zum Schluss: mit Headsets läuft die Sache.
Der digitale Fernsehabend startet mit der Premiere von »Heldin Nr. 0«. Ein im Kollektiv erarbeiteter Konzeptkunstfilm, gedreht in der Halle 116, produziert von bluespots productions. »Anti-Held*innen«, Stärke und Schwäche sind die Themen, eine Collage aus Schauspielbildern und durchaus theatralischen Szenen, konterkariert mit Brechttexten aus dem Off. Ein Film zwischen Verrätselung und Didaxe, eine ständige schwebende, von Raum zu Raum ziehende, fast schnittlose Kamera, dazu Musik, bei der Komponist Sebastian Birkl, Teil des Augsburger Rapduos Blindspot (Roy-Preisträger 2015) und solo bekannt als DOT, ganz neue Seiten von sich zeigt.
Dann: der zweite Teil von »Du sollst kein Brot essen«. Die »Slam-, Text- und Musikperformance« präsentiert als Aufzeichnung aus dem tim Augsburg die Spoken Word Protagonisten Pauline Füg und Florian Stein, deren Beiträge vom Musikertrio Steffi Sachsenmeier (drums), Tom Jahn (synths) und Girisha Fernando (bass, git) unter-, manchmal aber auch überlegt werden. »In wenigen Tagen wurde die Frau zum Mann, wie der Mann im Laufe der Jahrtausende zum Manne wurde«, so das Brecht-Zitat, welches das Konzept (Festivals = Konzepte, Konzepte, Konzepte) vorgibt. Füg: Gedankenlyrik und Reflektion, Stein: zwischen Story und humorvoller Prosa. Klar erkennbare Slam-Ästhetik, vom Blatt abgelesen, trifft auf einen Modular-Synthie-driven Jazz-Soul-Funk-Lounge-Mix.
Die Premiere von »Die unwürdige Greisin« ist der erste Höhepunkt des Brecht-Dienstags. Brechts gleichnamige Kalendergeschichte, übertragen in Einfache Sprache, in Trickfilm übertragen von Katia Fouquet. Trotz des Zielgruppen-Konzepts der Einfachen Sprache wendet sich der Beitrag klar an klassisches Festivalpublikum: In Verbindung mit dem fantasievollen Film von Fouquet geschieht Ästhetisierung, Metaphern und Überhöhungen ziehen ein, Sprengsel aus Surrealismus und Kubismus ergeben ein intellektuell aufgeladenes Bilderbuch. Herzwärmend, pittoresk und ein Erlebnis, es anzuschauen – die Einfache Sprache hier eine Einladung, gleitend einzutauchen in eine bisweilen sehr eigene Zeichenwelt. Die Erzählstimme von Sophie Reuss tut ihr übriges – wie Jürgen Kuttner im Studiotalk verrät, wurde sie coronabedingt mit einem Iphone aufgenommen, was für den Charme einer kammerwarmen Akustik sorgt.
Dann: Irina Rastorgueva und Thomas Martin mit »Haben Sie von Carola gehört?« Carola, nicht Corona! Der großartige Animationsfilm (Teil 1 von mehreren, folgenden) nähert sich Brecht und dessem berühmten V-, also: Verfremdungseffekt. Brecht, ein kleines Stoffmännchen (siehe Bild) in einem Stop-Motion-Trickfilm, der Materialmix mit einer Animationsstilrevue aus den 70ern, 80ern, 90ern und 2000ern verbindet, durchzogen und unterlegt von dem Charme russischer Trickfilm-Tradition. Papierobjekte, echte Objekte, Collagen, kleine Welten und große Realwelt feiern hier das Konzept Verfremdung als poetischen, ja feinfühligen Prozess. Ein kleiner Brecht als Welterkundler, ein großartig austariertes, verspieltes, detailreiches Spiel aus gelungener Kameraführung, Schnitt, Erzählfuss und Musik. Tatsächlich, wie Brecht selber doch schreibt: Ein Prozess wird durch Verfremdung nicht unsympathisch, ebenso wenig die Figuren, die wir verfremden. Der Animationsfilm – ein dankbares Format, das bei einem klassischen, analogen No-Corona-Festival womöglich gar keinen solch exponierten Platz gefunden hätte außerhalb eines Kinosaals.
Während der Programmwiederholungen (»Fabriktagebuch / Die Mutter« mit Corinna Harfouch und L-Twills' »Rhythm Imprint 04 – Inge, raise us from the dead«) verebbt der gut betreute Chat, der simultan zum Stream läuft. Bewegung kommt wieder auf bei der Premiere der nächsten Folge von Suse Wächters »Helden des 20. Jahrhunderts singen Brecht«. Dieses Mal ist es Karl Marx, der im Fokus steht. Das faszinierende Figurentheater beginnt mit einem die Brechtsche Weise »Gegen Verführung« singenden, Orgel spielenden Gott, der ins Gespräch tritt mit dem unvermittelt in den Kirchenraum tretenden Karl Marx. Ein fiktiver Dialog inklusive Armdrücken und abschließendem Zungenkuss und Liebesgeturtel. Hoi!
Um 22.08 Uhr ist die Filmschau vorbei, nach dem Abspann, um 22.10 Uhr, erscheint ein sichtlich müder, aber eben doch unermüdlich motivierter Jürgen Kuttner wieder auf dem Bildschirm. Er lädt zur digitalen Premierenfeier auf der virtuellen Event-Plattform Portal Airmeet ein. Eine innovative Idee der Festivalmacher, die von der bloßen Rezeption zum audiovisuellen Vollkontakt mit nicht nur den Künstler*innen und Kuratoren, sondern auch Mitzuschauer*innen führt. Airmeet, eine Art Gästeraum mit virtuellen, visualisierten Tischen, an denen man gezielt mit anderen zusammensitzen und sich über Videoaudio-Schalte austauschen kann. Gut ein Dutzend der Zuschauer*innen nutzen die Plattform noch, um Eindrücke auszutauschen, Fragen zu stellen und sich über einen gelungenen gemeinsamen Fernseh-, entschuldigung: Digitalabend zu freuen.
Bild: Video Still aus »Haben Sie von Carola gehört?« | © Irina Rastorgueva