Politik & Gesellschaft

App statt Archiv

Der größte Teil der Fußballmannschaft des AC Torres von 1969 war bei der Mechanischen Baumwoll-Spinnerei und Weberei Augsburg (SWA) beschäftigt. © Archiv tim
Gastautor

Erinnerung von Bedeutung – Bedeutung von Erinnerung. Ein Gastbeitrag von Karl Borromäus Murr
 

Erinnerungskultur ist so alt wie die Menschheit, die sich seit jeher um temporale Sinnbildung bemüht, um der eigenen Existenz Bedeutung zu verleihen. Von jungsteinzeitlichen Grabanlagen über christliche Riten bis hin zu den sozialen Medien – menschliche Kultur steht wesentlich im Zeichen der Erinnerung. Erinnerungskultur erfüllt dabei viele Funktionen, die jedoch erst seit relativ kurzer Zeit in den Fokus der Kulturwissenschaft geraten sind. In diesem Sinne attes­tierte der Historiker Randolph R. Starn 1989 der Geschichtswissenschaft seiner Zeit eine »Faszination, mehr noch, eine Obsession bezüglich historischer Erinnerung«. Zwei Jahre später stellte der deutsche Ägyptologe Jan Assmann, der der Erinnerungsforschung in Deutschland entscheidende Impulse verliehen hat, fest, »dass sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder – Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht – in neuen Zusammenhängen sehen lässt.«

Mit objektivierter Kultur verweist die Erinnerungsforschung auf einen kulturellen Formenschatz, der dem Gedächtnis Dauer verleihen mag

Wie aber operiert Erinnerungskultur? Welche Funktionen kommen ihr zu? Was lässt sich daraus über die jeweils aktiven Erinnerungsakteure erfahren?

Um diese Fragen zu beantworten, empfiehlt es sich, »Erinnerungskultur« noch näher einzugrenzen. »Während man einer privaten Erinnerung durchaus Gedächtnisqualität bescheinigen kann, dreht es sich bei Erinnerungskultur allerdings um das Gedächtnis einer sozialen Gruppe, das sich jenseits der Alltagskommunikation in einer gleichsam objektivierten Kultur über die Welt und sich selbst verständigt.« Hier deutet sich bereits an, dass ein zentrales Motiv, worum sich die Erinnerungskultur bzw. das kulturelle Gedächtnis rankt, die Identitätsstiftung für eine soziale Gruppe, eine Stadt oder eine Nation ist. 
Je nach Erinnerungsvorgang verhandeln die Erinnerungsakteure jeweils unterschiedliche Versionen der eigenen Identität, die die Einheit und Eigenart der in Rede stehenden Gruppe betreffen. »Nicht selten geschieht diese Identitätsstiftung in der gesellschaftlichen Abgrenzung von anderen, die im schlimmsten Fall zu Feinden erklärt werden.«

Mit objektivierter Kultur verweist die Erinnerungsforschung auf einen kulturellen Formenschatz, der dem Gedächtnis Dauer verleihen mag – ob es sich um kanonisierte Texte, wiederkehrende Riten, solide Denkmäler oder ganze Architekturen handelt. Während das private Gedächtnis – Assmann nennt es auch das kommunikative Gedächtnis – oft Gegenstände ins Gedächtnis ruft, die relativ zur Familiengeschichte gelagert sind, geht es bei der Erinnerungskultur um die Thematisierung fixer Ereignisse wie etwa die Schlacht im Teutoburger Wald oder das Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 – fixe Ereignisse, die gleichwohl deutungsoffen sind. Wer die jeweiligen Festreden zum Tag der deutschen Einheit studiert, wird bei aller Kontinuität der Form diese Flexibilität rasch erkennen. Sodann erweisen sich die Erinnerungsakteure als von zentraler Bedeutung für die Erinnerungskultur. Nicht selten handelt es sich dabei um regelrechte Erinnerungsexperten, gleich ob es sich um eine Priesterkaste, Künstler*innen oder Geschichtsschreiber handelt. Diese Erinnerungsakteure, deren Motive es zu vergegenwärtigen gilt, sorgen für eine Pflege des kulturellen Gedächtnisses.

Jede Erinnerungskultur eignet in der Regel eine Wertperspektive. Die Rede ist hier von einer normativen Verbindlichkeit, der sich die Mitglieder einer Erinnerungsgemeinschaft freiwillig unterwerfen – im gemeinsamen Interesse etwa am ostdeutschen Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Die Übereinstimmung mit der hier angedeuteten Wertperspektive erlaubt einerseits eine pädagogische Funktion, etwa indem sie die Erinnerungsbeteiligten zivilisiert, und ermöglicht andererseits, handlungsleitend zu sein, wenn etwa die Erinnerung an die Shoa ein demokratisches Engagement motiviert.

Versucht man, die abstrakten Überlegungen an einem Beispiel wie dem tim in Augsburg zu konkretisieren, so zeigt dieses sich als eine Institution der Erinnerungskultur. Die Geschichte der bayerischen Textilindustrie und ihrer Beschäftigten über Generationen hinweg öffentlich wertzuschätzen, trägt zur Identitätsbildung der Stadt und Region positiv bei. Viele der Sonderausstellungen des tim heben einzelne historische Identitätsmomente von Bürgerinnen und Bürgern hervor und stärken sie solchermaßen. Dass Gedächtniskultur nicht nur auf analoge, sondern auch digitale Weise stattfinden kann, beweist die vom tim entwickelte App »Amigra«, die Erinnerungsorte der Augsburger Migrationsgeschichte – von Wanderungsbewegungen des Neolithikums bis zur »Gastarbeit« der Nachkriegszeit – ins Bewusstsein hebt. Die App dokumentiert zugleich die Selbstverständlichkeit einer diversen Stadtgesellschaft und spricht sich damit für ein integratives Wir auch in der Gegenwart aus.

Wechselt man abschließend wieder von der Konkretion zur Abstraktion, soll die Perspektive auf Erinnerungskultur nochmals geweitet werden. Im Sinne einer philosophischen Anthropologie erlaubt das kulturelle Gedächtnis letztlich eine zeitliche Sinnbildung. Die Produktion von temporaler Bedeutung erscheint für uns Menschen so wichtig, weil wir in der Versicherung zeitlicher Kontinuität unser eigenes Selbstbild stärken, das von einer grundlegenden Diffusion bedroht ist. Wenn wir in der Gegenwart mithin eine Zunahme von Erinnerungskultur feststellen, dann liegt das vielleicht auch darin, dass uns die gesteigerte Flüchtigkeit der Welt besonders anficht. Deshalb ist es von grundlegender Wichtigkeit, die Erinnerungskultur verantwortlich zu gestalten – zum Wohle der Gesellschaft.

 

Karl B. Murr Portrait

Dr. Karl Borromäus Murr ist Historiker, Philosoph und Museologe. Seit 2009 ist er Direktor des Staatlichen Textil- und Industriemuseums tim

Amigra App

»Amigra« macht Augsburger Geschichte sichtbar

Die Geschichte Augsburgs ist immer auch eine Geschichte von Zuwanderung. Interessierte können die reiche Migrationsgeschichte Augsburgs von der Bronzezeit bis zur Gegenwart digital erleben. Möglich macht das »Amigra«, die App, die das tim gemeinsam mit dem Jüdischen Museum Augsburg Schwaben entwickelt hat. Dutzende Orte in ganz Augsburg wurden dafür aufgespürt, die spannende, bewegende und oftmals unbekannte Geschichten von Migration erzählen. Insgesamt stehen mehr als 40 Augsburger Orte mit Informationen zur Migrationsgeschichte zur Verfügung. Die Nutzung der App ist kostenlos; sie steht im App Store und bei Google Play gratis zum Download bereit.

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