»Brecht der Kotzbrocken«
Große Vorfreude in den meisten Chatnachrichten der Besucher*innen des Brechtfestivals. Viele sind bereits im virtuellen Warteraum des Livestreams gespannt auf die Premiere der Augsburger Theatergruppe »theter«. Vermittelt der Chat und die auswählbaren Emojis zu Beginn noch ein Gefühl von gemeinschaftlichem Warten vor Einlass in die Kulturstätte (»Hallo aus München«, »Hallo aus Wien«, »Hallo aus Pfersee«, »Freu mich schon total«, »Bin schon gespannt«), lenken sie beim Ansehen der einzelnen Beiträge leider ab. Wer also auf die Kommentare verzichten kann, sollte unbedingt den Vollbildmodus einschalten. Zwischen den einzelnen Programmpunkten kann das Durchscrollen durch den Chat aber äußerst amüsant sein.
»Wir sollten über Ruth sprechen, nicht über Brecht«, forderten die Künstler*innen von »theter« und drehten »Ruth«, einen Kurzfilm (Foto: Daria Welsch © Leif Eric Young) über Ruth Berlau: Fotografin, Autorin, Regisseurin, Kämpferin im Spanischen Bürgerkrieg, Brechts Geliebte und Vertraute. Eine Frau mit einer beeindruckenden Vita, die nur eine Schwäche hatte: »Sie liebte«. Im Chat stimmte man »theter« zu und forderte: »Nächstes Jahr Ruth Berlau Festival«. Weitere Chatgäste übertitelten den Beitrag mit »Ruth und die dunkle Seite des BB« und »Brecht der Kotzbrocken in drei Akten«. Tatsächlich bekam Brecht bei »theter« ordentlich sein Fett weg. Von der Festivalcommunity wurden die Roy-Preisträger 2017 dafür gefeiert. Es regnete reichlich virtuellen Applaus.
Auch bei Frank Wolff schwingt Kritik mit. Der Cellist sprach gestern frei von der Leber weg, was er denkt. Er monologisiert kritisch, aber wertschätzend über Brecht und driftet dabei ab und an mal ab – das nimmt man ihm aber nicht übel, da er dabei äußerst sympathisch bleibt. Virtuos spielt er zwischendurch auf seinem Cello. In den Chatnachrichten wünschten sich manche Zuschauer*innen mehr Musik und weniger Reden.
Musikalisch wurde es gestern auch bei Charlotte Brandi, die ihr Konzert erfreulicherweise im Augsburger Textil- und Industriemuseum aufnahm. Für Brandi nicht ihr erster Abstecher in die Brechtstadt. Bereits 2019 schrieb die Wahlberlinerin die Musik für das Stück »Und jetzt die Welt!« am Staatstheater. Man kann nur hoffen, dass sie und ihre fantastische Musik noch häufiger nach Augsburg kommen werden.
»Komisch, diese Seite von Brecht haben wir in der Schule gar nicht kennengelernt«, stellte ein verdutzter Besucher beim letzten Programmpunkt des Abends im Chat fest. Besser kann man die musikalische Performance von Johannes Aue und Ben Hartmann (während des Studiotalks schmatzend mit Kaugummi und »manspreading« vom Feinsten) nicht beschreiben. Die beiden Künstler befassten sich mit Brechts erotischen Sonetten. Im Studiotalk wies Festivalleiter Jürgen Kuttner noch einmal die Festivalbesucher*innen auf die angegebene Altersbegrenzung ab 16 Jahren für die besondere Performance hin. Das mag sinnvoll gewesen sein aufgrund der vorgetragenen erotischen Texte von Bertolt Brecht. Zu sehen bekam der Zuschauer aber eher Ekelhaftes als Frivoles.
www.brechtfestival.de