Brecht auf der Schlachtbank
Nett: Das Publikum machte reichlich Gebrauch von den animierten Reaktionsbuttons, um Suse Wächter, Yulia Lokshina, Jürgen Kuttner und Tom Kühnel mit klatschenden Händen, fliegenden Hüten und herzförmigen Luftballons in der Gesprächsrunde vor dem Film zu begrüßen. Sympathisch berlinernd leitete Brechtfestivalleiter Kuttner die Runde und stellte die Fragen. Die Zuschauer*innen erfuhren zum Beispiel, dass Regisseurin Lokshina diesen, ihren Abschlussfilm an der HFF-München, bereits drei bis vier Jahre im Voraus recherchierte und sich mit den Arbeitsbedingungen und Schicksalen der Leiharbeiter*innen in Deutschlands Fleischindustrie auseinandersetzte. So war die Dokumentation bei ihrer Premiere Anfang 2020 dem Skandal um die mangelhaften Arbeitsbedingungen beim Fleischverarbeiter Tönnies im Zuge massenhafter Covid-19-Infektionen und seiner Zeit weit voraus:
In der westdeutschen Provinz kämpfen osteuropäische Leiharbeiter*innen des größten Schweineschlachtbetriebs des Landes ums Überleben – und Aktivist*innen, die sich für deren Rechte einsetzen, mit den Behörden. Zur gleichen Zeit proben Münchener Gymnasiast*innen das Stück »Die Heilige Johanna der Schlachthöfe« und reflektieren über die deutschen Wirtschaftsstrukturen und ihr Verhältnis dazu.
Verwoben mit den Gedankengängen der Jugendlichen und ihrer Auseinandersetzung mit dem Text in den Proben erzählt der Film in unterschiedlichen Fragmenten über Bedingungen und Facetten von Leiharbeit und Arbeitsmigration in Deutschland.
Gepaart mit langen, collagierten Einstellungen und knallharten Interviews ganz nah an Mann und Frau, schafft Lokshina so ein beeindruckendes Mosaik über Fressen und Moral. Geschönt oder verheimlicht wird nichts, Traumata und Gewalt werden spürbar, auch ohne die prekären Verhältnisse zu zeigen. Nur durch die O-Töne, durch die Menschen, denen die Regisseurin eine Stimme gibt, wird eine widerliche Fratze unserer modernen Wirtschaft sichtbar. Yulia Lokshina ist ein zutiefst menschliches und bewegendes Debüt gelungen.
Auch im Brechtfestival-Chatfenster neben dem Film, in dem die meiste Zeit nur grober Unfug und ein paar Brecht-Zitate zu lesen waren, zollte eine Mehrheit der Zuschauer*innen am Ende gebührenden Respekt.
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Foto © JIP Film