Am 1. Oktober 1949 schrieb die Schwäbische Landeszeitung: »Augsburg hat wieder seine ›Große Kunstausstellung‹«. Über 200 Künstler*innen zeigten 400 Malereien, Plastiken und Grafiken im Schaezlerpalais. Noch spielte die regionale Aufteilung von Landesverbänden keine Rolle. Die Herkunft der ausgestellten Künstler geht über den heutigen geografischen Rahmen hinaus. Auch zwei Künstler aus München waren in dieser Ausstellung vertreten.
Kunst ergibt sich automatisch
Ein Gespräch über kulturelle Prägung und Energiefelder. Ein Interview mit Stephan Huber von Jürgen Kannler
a3kultur: Herr Huber, wir haben uns bei Ihrer Vernissage in Oberschönenfeld vor einer Ihrer Landkarten getroffen. Es ist eine bald schon monumentale Arbeit. Sie zeigt im Zentrum das Allgäu und an den Rändern die Nachbarschaften dieser Region. Sie stammen aus dem Allgäu und leben und arbeiten heute wieder dort. Würden Sie das Allgäu als Ihre Heimat bezeichnen?
Stephan Huber: Ich bin Allgäuer. Allerdings verwende ich den Begriff Heimat nicht. Er erscheint mir als zu tümelnd. Das Wort in dieser Form gibt es ja fast nur im Deutschen. Für mich ist es die Region, die mich am meisten geprägt hat, auch wenn ich sie als extrem konservativ kennengelernt habe.
Was macht für Sie diese Region aus, die Sie so sehr geprägt hat?
Es sind wohl vor allem die verschiedenen Sozialisationsfaktoren, mit denen man Zeit seines Lebens konfrontiert wird. Nachbarschaften und Freunde. Allen voran natürlich die familiäre Verwurzelung. In gleichem Maße ist die kulturelle Prägung zu nennen, auch das barock-katholische Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin. Und natürlich die Landschaften des Allgäus, allen voran die Berge.
Die Berge sind ja ein wesentliches Thema vieler Ihrer Arbeiten. Worin gründet sich diese Verbundenheit?
Die früheste Haupterinnerung meiner Kindheit ist die an die massive Nagelfluh-Bergkette, welche den Blick nach Süden begrenzte. Ich wollte immer herausfinden, was sich dahinter befindet.
Auf Ihrer Allgäukarte, die gegenwärtig noch in der Schwäbischen Galerie des Bezirks in Oberschönenfeld zu sehen ist, haben Sie Personendaten von bedeutenden Menschen ebenso positioniert wie geschichtlich relevante Orte und Daten, sowie Orte technischer oder kultureller Entwicklungen. Nach welchen Kriterien haben Sie diese Auswahl getroffen?
Die Zusammenstellung ist subjektiv, vielleicht auch etwas emotional geleitet. Sie schöpft aus meinem persönlichen Reservoir, das irgendwo in meinem Kopf angesiedelt ist. Ich bin Geschichtenerzähler, kein Historiker. Diese Allgäu-Karte ist wohl auch konservativer als andere Arbeiten von mir, weil sie extrem auf Einzelpersonen Bezug nimmt. Man erkennt zahlreiche Energiefelder. Diese beziehen sich in den meisten Fällen auf Einzelpersonen, die die Region oder gar die Welt zu verändern wussten. Mal mehr, mal weniger.
Wie würden Sie den Stephan Huber vor 50 oder 60 Jahren beschreiben?
Als junger Mann war ich vom Denken und der Bewegung geprägt, die ebenso gerne wie vereinfachend als »68er« bezeichnet wird. Bücher waren mein Treibstoff. Es gab da eine Buchhandlung in Lindau, da habe ich gerne eingekauft. Auch viele Bände, die ich nicht verstanden habe. So sind wir auf unserer Haltung gesurft: Positioniert links, inspiriert vom Marxismus/Leninismus. Diese Positionierung hat sich dann relativiert, je mehr man vom Leben und Leiden im real existierenden Sozialismus erfahren hat. Heute bin ich vielleicht ein radikaler Demokrat. Unser Grundgesetz ist das beste in Europa, unbedingt schützenswert und ein guter Grund, zur Erhaltung dieser Werte auf die Straße zu gehen.
Es gibt auf dieser Karte viel zu entdecken. Man liest von starken Frauen, großen Künstler*innen und wegweisenden Erfindungen. Man stößt aber auch auf verstörende Informationen, wie jene aus den 1920er Jahren, nach der zugewanderte Kinder von der Schulpflicht entbunden waren. Im Grunde handelt es sich wohl um einen Winkelzug, um sie als billige Arbeitskräfte ausbeuten zu können. Was hat diese Information bei Ihnen bewirkt?
Das Schicksal der sogenannten »Schwabenkinder« ist ja an sich kein Geheimnis. Die armen Würmchen wurden über sehr lange Zeit von Südtirol, das damals sehr arm war, nach Oberschwaben getrieben, wo sie zumeist auf recht großen Bauernhöfen sehr hart arbeiten mussten. Es waren Kindersklaven. Ihnen die Schulbildung vorzuenthalten, war ein typisches Zeichen für diese Art der Ausbeutung.
Wenn wir die Karte von Schwaben betrachten, erkennen wir einige Orte des Grauens. Nehmen Sie Kaufbeuren oder Irsee mit seinen Euthanasiekliniken. Oder die vielen KZ-Außenstellen, die es in unserer Region gab. Das Allgäu hat – wie die meisten anderen Gegenden dieser Welt – extrem dunkle Zeiten erlebt.
Welche Verantwortung tragen wir für Dinge, die vor unserer Zeit geschehen sind?
Ich habe keine direkte Verantwortung gegenüber den Ereignissen, die ohne mich stattfanden. Aber es gibt für uns alle eine Verantwortung, Geschichtsschreibung korrekt zu betreiben und aus dieser Geschichte nach Möglichkeit zu lernen.
Ihre Karte erzählt auch vom Kommen und Gehen. Wie können wir diese ständigen Veränderungen als Teil des Lebens begreifen und damit zurechtkommen?
Das geht doch automatisch. Ich fühle mich im Hier und Jetzt, und in der Kunst schwingt immer auch der Tod mit. Also kommen in meiner Ausstellung die Skelette ebenso zu ihrem Recht wie das Licht. Das ist alles ein recht barockes Muster. Wobei ich persönlich eher zu Fröhlichkeit neige, wie wir sie beispielsweise im Rokoko kennengelernt haben.
Was meinen Sie, wie entscheidet man, was bleiben soll und was weg kann?
Die Frage ist eher, wer der Entscheidungsträger ist. Populisten entscheiden anders als der Demokratie verpflichtete Menschen. Es ist ein Kampf zwischen fortschrittlichen und konservativen Haltungen.
Und wie verhält es sich in dem Kontext mit der Kunst?
Kunst ergibt sich automatisch. Arbeiten, die das Interesse der Menschen wecken, bleiben. Wo kein Interesse herrscht, wird das Werk weichen. Bleibend ist Kunst, die Orte definiert oder durch diese definiert wird und so an diese gebunden ist. Das hat viel mit Empfindsamkeit zu tun. Gegenwärtig sind leider zu wenige Menschen gegenüber der Ausgrenzung empfindsam. Aber auch das wird sich hoffentlich wieder ändern.
Stephan Huber
Studium an der Akademie der bildenden Künste und der LMU München. Arbeitsaufenthalt in New York 1980/81. Professur an der Akademie der bildenden Künste München von 2004 bis 2017. Lebt und arbeitet als Bildhauer in München und im Ostallgäu.